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Trennung siamesischer Zwillinge Trennung siamesischer Zwillinge: Die brutale Macht des Wunschdenkens

Von Irene Meichsner 17.09.2004, 17:50

Halle/MZ. - Irgendwann gab es kein Zurück mehr fürLea und Tabea. Spätestens, als die Öffentlichkeitvom Schicksal der Familie aus Lemgo Besitzergriff.

Keine Frage: Der Anblick siamesischer Zwillingeist schwer zu ertragen. So fundamental verletzter unser Autonomiebedürfnis, dass es vielennahezu unmöglich erscheint, sich ein körperlichaneinander gekettetes Leben überhaupt vorzustellen.

Früher hat man siamesische Zwillinge öffentlichzur Schau gestellt. Heute fehlt nicht mehrviel, und die Welt nimmt live an einer Trennungsoperationteil. Der Vergleich mag wehtun. Doch wer sichdagegen sträubt, der sollte sich auch einmalfragen, ob in der enormen öffentlichen Anteilnamewirklich nur das Mitgefühl eine Rolle spielt- wo man doch bei solchen Eingriffen den Tododer schwerste Behinderung fest einkalkulierenmuss.

Der Wunsch, siamesische Zwillinge voneinandergetrennt zu sehen, ist mächtig. "Wir habenmit dem Leben gerechnet, nicht mit dem Todgeplant": Erschöpft vom Fasten- und Gebetsmarathonreagierte der Pastor der mennonitischen GemeindeLemgo auf die Nachricht von Tabeas Tod, alswäre er aus einer Trance erwacht.

Von Wunschdenken spricht man, wenn jemandsich einredet, die Realität möge nicht sosein, wie sie ist. In seiner kollektiven Formnimmt das Wunschdenken brutale Züge an,wenn es unrealistische Hoffnungen schürt.

Wie frei waren die Eltern der Zwillinge inihrer Entscheidung, die Trennung zu wagen?

Wie frei kann man noch sein, von einer solchenEntscheidung zurückzutreten, wenn ein Spendenkontoüberfließt, die ganze Maschinerie des gutenWillens auf Hochtouren läuft?

Benjamin Carson, der leitende Chirurg, kanntedie Kinder nur von Ultraschallbildern undAufnahmen aus dem Kernspintomographen, alser den Eltern - noch während der Schwangerschaft- eine 75-prozentige Überlebenschance nacheiner operativen Trennung in Aussicht stellte.So jedenfalls war es dem "Stern" zu entnehmen.Der sicherte sich nicht nur die Exklusivrechtean der Geschichte und damit Nachfragen andererJournalisten etwa an der Klinik in Baltimoreunterband. Er wirkte auch daran mit, einemArzt göttliche Züge zu verleihen, der beiähnlichen Versuchen gescheitert ist.

Der Arzt Carson weiß, dass er seine internationaleBekanntheit nicht zuletzt der Tatsache verdankt,dass er siamesische Zwillinge zu trennen versucht.Er habe wieder hinzugelernt und wisse schon,was er nächstes Mal besser machen werde, erklärteer noch am Tag von Tabeas Tod. Und äußertezugleich "die große Hoffnung, dass Lea starkbleiben und sich gut erholen wird und zu einemgesunden jungen Mädchen heranwächst".

Jeder wünscht sich das. Aber außer Wunschdenkenspricht noch nichts dafür.