Süßes Süßes: Grabower Küsse aus Schaum
Halle (Saale)/MZ. - Kringel um Kringel quillt die weiße Masse aus dem Spritzbeutel. Nun entscheidet allein das Fingerspitzengefühl: Luftiger Kuss oder trauriges Häufchen? Laura Weist macht's vor. Prompt bringt die Dozentin den perfekten Kloß aufs Tablett, schüttet behutsam flüssige Schokolade darüber und präsentiert stolz einen Schaumkuss, wie er appetitlicher kaum aussehen könnte. "Wer zu fest auf den Beutel drückt, bekommt Sauerei", warnt die 23-jährige Expertin. Seit zwei Jahren gibt es in Grabow die "Schau(m)manufaktur", seither dürfen Wagemutige dort das bundesweit beliebte Naschwerk aus Mecklenburg-Vorpommern selbst herstellen. Und wer es richtig macht, der erhält am Ende das "Küsschen-Diplom". "Im Handel sind die echten Schaumküsse übrigens an einem Schoko-Zipfel oben drauf zu erkennen", schildert Laura Weist mit Blick auf das geschützte Markenzeichen. Aber den Zipfel kriegt keiner hin.
Das kleine Schokostück stammt nämlich aus jenen Zeiten, als die klebrige Masse aus reichlich Zucker, viel Eischnee mit einer Prise Salz und Gelatine in Schokolade getaucht wurde - und kein warmer Guss von oben kam. So geschah es 1954, als die heutige "Grabower Süßwaren GmbH" ein "Volkseigener Betrieb" war und in der DDR "Dauerbackwaren" produzierte.
Familie mit süßen Vorlieben
Etliche Jahrzehnte zuvor ist es allerdings die Bäckerfamilie Bollhagen, die in Grabow nichts Herzhaftes mehr backen will, sondern den Kunden lieber Pfeffernüsse, Biskuitgebäck, Schokoherzen und vor allem Waffeln serviert. Da, im 19. Jahrhundert, ist der einst schmucke Fachwerk-Ort an der Elde die reichste Stadt der Region, 12 000 Menschen leben dort, 400 von ihnen verdienen als Bäcker ihr Geld. Süßes aber ist Mangelware in den Geschäften. Doch in der Lehrlingskammer von Johann Bollhagen entsteht um 1837 der erste "Pflasterstein", eine besonders harte Pfeffernuss zum Lutschen. Und als schließlich der Baiser - das bedeutet "Kuss" - aus Frankreich nach Deutschland kommt, ist der erste Schaumkuss nicht mehr fern.
"Heute stellen wir an einem Tag rund 6,5 Millionen Exemplare davon her", sagt derweil Jutta Bückendorf von "Continental Bakeries" mit Sitz im westfälischen Gronau. Seit 2010 gehört die 1835 gegründete Firma in die Riege des niederländischen Großkonzerns. "In den neuen Bundesländern sind die Grabower Schaumküsse der unangefochtene Marktführer", so die Marketingmitarbeiterin. "Und bundesweit haben wir mengenmäßig gegenüber den Mitbewerbern inzwischen ebenfalls die Nase vorn." Wer in Deutschland aber den ersten Schaumkuss überhaupt produziert hat, darüber streiten die Konkurrenten. Die Küsse aus Grabow gibt es mittlerweile in 54 Ländern. Die hauchdünne Schokoschicht sorgt dafür, dass die Süßigkeit etwa vier Wochen frisch bleibt. Bis 1995 ging sie noch mit den unschönen und nun verbotenen Namen "Negerkuss" oder "Mohrenkopf" über den Ladentisch.
"Wie auch immer, auf jeden Fall kennt diese Leckerei wirklich jede Generation", so Rosemarie Schmelzer aus Magdeburg, die mit Enkelin Josefine (8) die "Schau(m)manufaktur" besucht. Dort schwelgen die Schüler von Laura Weist längst in süßen Kindheitserinnerungen. "Die schmecken noch genauso wie früher", schwärmt Regina Krumm (55) aus Ludwigslust, die mit 13 Kollegen einen Betriebsausflug nach Grabow unternommen hat und jetzt den ersten Schaumkuss behutsam aus dem Beutel presst.
Küsse mit immer neuen Aromen
Manchem reicht der schlichte Klassiker mit hellem, weißem oder zartbitterem Schoko-Mantel nicht mehr aus. Im Sommer etwa gibt es Küsse mit Erdbeer- oder Limettenaroma, für Kinder den Himbeerkuss mit Comic-Katze oder den Drachenkuss, der nach Cola schmeckt. Beim "Luxusmodell" im Sortiment versinkt indes eine ganze Kirsche im weißen Eischneeschaum.
Laura Weist, die täglich zwei bis drei Gruppen in die Geheimnisse der Schaumkuss-Produktion einweiht, betont gern, dass das Naschwerk kaum Kalorien habe, zumal immer eine gehörige Portion gute Mecklenburger Luft darin verarbeitet werde. Laut Hersteller sind es 82 - beziehungsweise bei der zuckerfreien Variante 59 - Kilokalorien pro Stück von je 28 Gramm.
Arbeitgeber der jungen Frau ist die Berufsbildungsstätte "Start", die in einem typischen Fachwerkbau nicht nur die "Schau(m)anufaktur" ausgestattet, sondern auch mit anderen Trägern ein Lehr-Café im Stil der 20er Jahre eingerichtet hat. "Integration durch Tradition - Grabow für alle Menschen" heißt das millionenschwere Projekt, das in der heute eher tristen Kleinstadt mit nur noch 5 800 Einwohnern die Generationen zusammenbringen und Traditionsspeisen bewahren soll. Nach zwei Jahren steht für Laura Weist fest: "Den Schaumkuss hat keiner vergessen."