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Stasi taufte ihn "Ikarus" Stasi taufte ihn "Ikarus": Dresdner wollte aus der DDR fliehen

Von Alexander Schierholz 26.01.2018, 17:17
Fast wie damals: In einer Scheune hat Michael Schlosser das Flugzeug nachgebaut, mit dem er 1983 aus der DDR fliehen wollte. Nun will er zeigen, dass seine Eigenbau-Kiste fliegen kann.
Fast wie damals: In einer Scheune hat Michael Schlosser das Flugzeug nachgebaut, mit dem er 1983 aus der DDR fliehen wollte. Nun will er zeigen, dass seine Eigenbau-Kiste fliegen kann. Andreas Stedtler

Dresden - Den Entschluss abzuhauen fasst Michael Schlosser aus Dresden auf einem Campingplatz in der Tschechoslowakei. Herbst 1980, gerade hat die DDR dem Automechaniker die Eröffnung einer eigenen Werkstatt verweigert.

Schlosser ist sauer, er braucht erstmal Urlaub. In seinem alten „Stern“-Kofferradio berichtet ein West-Sender von einem Angebot des westdeutschen Springer-Verlages: Wer es schafft, mit einem selbstgebauten Hubschrauber auf dem Dach des Springer-Hochhauses in West-Berlin zu landen, dem zahlen die Zeitungsleute eine Million D-Mark.

Flucht aus DDR per Flugzeug

Schlossers Frust ist so groß, dass er beschließt: Das machst Du! Am Ende baut er statt eines Hubschraubers ein Flugzeug. Doch bevor er damit die DDR verlassen kann, wird er im Oktober 1983 verpfiffen.

Das ist in Kurzform die Geschichte der gescheiterten Flucht des Michael Schlosser. Er hat sie unzählige Male erzählt, vor Schulklassen, in Mauermuseen und Gedenkstätten. Nur eines hat er nie zeigen können: Dass seine Selbstbau-Maschine tatsächlich flugfähig war. Wie auch? Die Stasi hat sein Flugzeug damals beschlagnahmt. Es ist verschollen, vielleicht längst verschrottet, wer weiß.

Michael Schlosser ist der „Dresdner Ikarus“

Aber Michael Schlosser, 73, Jeans, T-Shirt, schwarze Fliegerjacke, hat eine Mission: Er will die Geschichte zu Ende bringen, die er damals angefangen hat. „Ich will den Beweis antreten, dass mein Flugzeug fliegen kann!“, sagt er. Also hat er es nachgebaut.

Video: Mit dem Flugzeug in die Freiheit

Schlosser nennt sich „Dresdner Ikarus“, nach dem Namen, dem sie ihm damals bei der Stasi verpasst haben. Er prangt auch auf dem Flugzeug, das Schlosser jetzt zeigt. Es soll nicht abstürzen wie die griechische Sagengestalt.

Nachbau der Propeller-Maschine aus dem Jahr 1983

Eine Scheune im Osterzgebirge. Schlosser öffnet das Tor, und da steht es, die Alu-Haut glänzt silbrig, ein Propeller aus Holz, grün gestrichen, ein Trabi-Motor. Fast wie damals, 1983.

„Ich habe nur ein paar technische Details anpassen müssen.“ Die Scheune ist seine Werkstatt. An der Längsseite steht eine Werkbank, darauf wild verstreut Werkzeuge und Ölflaschen.

In einem Nebenraum steht allerlei Gerümpel, Bretter, Rohre, Pflastersteine, Schränke, ein alter Motor. „Ich muss hier mal umbauen“, sagt Schlosser entschuldigend. Aber erst einmal musste ja das Flugzeug fertig werden.

Auch im Mauermuseum in Berlin steht ein Nachbau

Es ist bereits seine vierte Maschine Marke Eigenbau. Der erste Nachbau des Originals steht im Mauermuseum in Berlin, der zweite in der Dresdner Stasi-Gedenkstätte Bautzner Straße. Mit Nummer drei will er endlich in die Luft gehen.

Zumindest ein bisschen. Schlosser will zeigen, dass er abheben kann. „Es geht nur um einen Hopser“, sagt er. Um richtig fliegen zu können, bräuchte die Maschine eine Zulassung des Luftfahrtbundesamtes, ihr Erbauer einen Pilotenschein.

Beides kostet Zeit und Geld. Michael Schlosser grinst: „Vielleicht finde ich ja noch Sponsoren.“ Schlosser ist ein Typ, der Witze reißt wie diesen: „Wozu ist der Propeller da? Zur Kühlung des Piloten. Wenn der Propeller steht, schwitzt der Pilot.“

Erinnerungen an die DDR-Zeit

Witze, über die er selbst am lautesten lacht. Er erzählt, wie er sich zu DDR-Zeiten in der Tschechoslowakei Baumaterial für sein Haus in Dresden besorgt hat und Sardinenbüchsen dutzendweise in tschechoslowakischen Läden.

„Kann man sich heute nicht vorstellen“, sagt er, „aber Ölsardinen waren ein Türöffner in der DDR.“ Zum Tauschen gegen andere Waren, an denen offiziell Mangel herrschte.

Und so einer soll nicht eine 5,60 Meter lange und 189 Kilo schwere Alu-Kiste zum Fliegen bringen? Dabei ging ein erster Startversuch bereits schief. Juli 2017, der Flugplatz in Langhennersdorf, Erzgebirge.

Erster Startversuch mit Flugzeug geht schief

Hier will Michael Schlosser den „Ikarus“ hopsen lassen. Er rollt los, da kommt ihm das Auto eines Fotografen zu nahe. Das Heckrad gerät in eine Bodenrille, es reißt die Maschine herum, plötzlich hält er den Steuerknüppel in der Hand. Schluss, Aus, Ende. Schlosser fährt wieder heim, repariert sein Flugzeug.

Einmal aber war er schon in der Luft. 1983, Königsbrück bei Dresden, ein Truppenübungsplatz der Sowjet-Armee. Dort will Michael Schlosser die Maschine testen, mit der er aus der DDR fliehen will.

Schlosser versteckt Flugzeug unter einer Plane

Früh am Morgen fährt er los, das Flugzeug unter einer Plane verborgen auf einem Lastwagen des DDR-Fernsehens. Schlosser ist Fuhrparkleiter im Studio Dresden.

In Königsbrück will er gerade abladen, als sieben russische Soldaten um die Ecke biegen. Schlosser behält die Nerven. Ein Film solle gedreht werden, erklärt er, und er solle schon mal ausladen. Die Kollegen seien noch unterwegs.

Soldaten helfen beim Abladen der Maschine

Was dann folgt, klingt auch wie aus einem Film: Die Soldaten schlucken die Geschichte, sie helfen ihm sogar beim Abladen und beim Start. Sie schieben die Maschine an, Schlosser rast los, immer schneller, schließlich hebt er ab, ist vielleicht zwei Meter über dem Boden. Die Bäume am Ende des Flugfeldes kommen näher, Er zieht wieder runter. Er weiß jetzt: Es funktioniert!

Über Monate hat er seinerzeit auf diesen Moment hingearbeitet. In einem Schuppen hinter seinem Haus in Dresden entsteht das Flugzeug, unbemerkt von den Nachbarn.

Für die Hülle besorgt Schlosser sich alte Fernseh-Kulissen aus Polyester. Er kramt seine Erinnerungen an seine Armee-Zeit zusammen. Bei der Luftwaffe arbeitete er in der Autowerkstatt, am Wochenende reparierte er die Autos der fliegenden Kollegen.

Durch Zufall fliegt Schlossers Fluchtplan auf

Die ließen ihn zum Dank immer mal mitfliegen. In seiner Stasi-Akte wird später stehen, er habe sich während der Dienstzeit „fliegerische Grundkenntnisse angeeignet“.

Am Ende wird Michael Schlosser ein banaler Zufall zum Verhängnis. Oktober 1983, zwei Wochen vor seiner geplanten Flucht. An seinem Schreibtisch im Studio Dresden blättert er eine ungarische Auto-Zeitschrift durch und stößt auf einen Beitrag über Motordrachen.

Farbkopien der Seiten hat er heute noch, versehen mit Stempeln der Stasi-Unterlagenbehörde. Zwei Kollegen bekommen mit, was er sich da anschaut und schöpfen Verdacht. Es folgen: Hausdurchsuchung, Knast, Ausbürgerung. Im Westen baut er sich auf, was er in der DDR nicht durfte: eine Autowerkstatt. Erst 2004, als Rentner, kehrt Michael Schlosser nach Sachsen zurück.

Die Geschichte ist zu Ende - und auch wieder nicht. Michael Schlosser schließt das Tor der Scheune, in der der „Ikarus“ auf seinen nächsten Start wartet. „Im Frühjahr will ich es nochmal versuchen.“ (mz)

Das beschlagnahmte Fluchtflugzeug, ein Bild aus Schlossers Stasi-Akte
Das beschlagnahmte Fluchtflugzeug, ein Bild aus Schlossers Stasi-Akte
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