Zum 100. Geburtstag von Horst Sindermann Zum 100. Geburtstag von Horst Sindermann: Der Mann mit dem halleschen Stil
Es ist Februar 1953, als Horst Sindermann beschließt, selbst loszufahren. Raus aufs Land nach Baumersroda bei Nebra will der Chef der SED-Bezirkszeitung „Freiheit“, um zu sehen, „wie unsere Beschlüsse umgesetzt werden“.
Sindermann, 38 Jahre alt, Brille und schon etwas dünneres Haar, findet dann Fürchterliches. Die neugegründeten Genossenschaften kämpfen ums Überleben. Eine funktionierende Verwaltung gibt es nicht. Alle melden allen alles. Aber niemand unternimmt etwas gegen Missstände und Versorgungslücken.
Horst Sindermann, im zarten Alter von 14 Jahren am Dresdner Albrecht-Dürer-Gymnasium Kommunist geworden, mit 18 ins Gefängnis gesteckt und erst mit Kriegsende nach zwölf Jahren im Zuchthaus Waldheim und in den KZs Sachsenhausen und Mauthausen wieder in Freiheit gekommen, tut nun Unerhörtes für den SED-Staat. Er schreibt auf, wie das System in der Realität versagte.
Chef-Agitator der Einheitspartei
Es ist dieses kleine bisschen Anderssein gewesen, das aus dem kommunistischen Jugendfunktionär, der kurz vor dem Abi wegen kommunistischer Umtriebe von der Schule geflogen war, einen der „führenden Repräsentanten der DDR“ machen sollte, wie es später heißt. Kurz nach dem schonungslosen Artikel aus Baumersroda holt der damalige DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht Sindermann nach Berlin.
Der Zeitungsmann, den seine Mitarbeiter in Halle wegen seiner lockeren, unideologischen Art schätzen, wird Chef-Agitator der Einheitspartei. In dieser Funktion erfindet Horst Sindermann später den Begriff „antifaschistischer Schutzwall“ als Synonym für die Mauer - eine Formulierung, an die er glaubt, wie sein Sohn Michael Sindermann versichert. „Er hat an der Ideologie nie rütteln lassen“, glaubt der 70-Jährige, der die biografischen Notizen seines Vaters unter dem Namen „Vor Tageslicht“ herausgebracht hat.
Der Spitzenfunktionär beschreibt hier, wie er als Schreiber der SS-Kommandatur Zuteilungslisten fälscht und tonnenweise abgezweigte Lebensmittel ins Krankenrevier schmuggelt. „Das hatte er zuvor nicht mal uns Söhnen erzählt“, ist Michael Sindermann überrascht von den Aufzeichnungen, die sein Vater Ende der 80er aufschrieb, als seine Zweifel am Kurs seiner Partei größer wurden.
Verrat steht im Raum
„Es war ein Akt der Selbstvergewisserung“, denkt sein Sohn, dem die drastischen Schilderungen aus dem KZ erst nach dem Tod des Vaters in die Hände fielen. Auch Egon Krenz, der Jahrzehnte mit Sindermann im Politbüro saß, wundert sich jetzt. „Er sprach nicht oder nur sehr wenig über sich.“
In seinen Erinnerungen hadert Sindermann auch nicht, obwohl die kommunistische Ideologie ihn kurz nach dem Krieg selbst ins Visier nimmt. Sowjetische Dokumente scheinen damals zu belegen, dass der Jungfunktionär der Parteilinie im KZ nicht treu geblieben ist. Verrat steht im Raum. Sindermann verteidigt sich. Nur eine beherzte Versetzung aus Berlin zurück nach Halle, wo er bei der „Freiheit“, aus der später die Mitteldeutsche Zeitung wird, überwintern kann, rettet ihm die Karriere. Nach drei Jahren auf dem Lande ruft Walter Ulbricht ihn zurück nach Berlin.
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Doch es ist Halle, wo Sindermann mit Mitte 40 die Aufgabe seines Lebens erwartet. Als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung ist er nun auserkoren, den fünf Monate zuvor vom SED-Politbüro beschlossenen Bau zur Errichtung einer ganzen neuen Chemiearbeiter-Stadt umzusetzen. Häuser für 60 000 Menschen müssen gebaut werden. Zudem ist die Infrastruktur zu errichten, um den nahen Chemiegiganten Leuna und Buna das Arbeitskräftereservoir zu liefern, das gebraucht wird, um Ulbrichts Parole vom „Überholen, ohne einzuholen“ umzusetzen.
Horst Sindermann ist der richtige für diese Aufgabe. „Vater fiel es leicht, auf Menschen zuzugehen“, beschreibt ihn sein Sohn Michael. Der neue Erste in Halle trifft schnelle Entscheidungen, er ist eher pragmatischer Manager als verbohrter Funktionär. Es ist keine Zeit für große Bürokratie und für ideologische Grundsatzfragen schon gar nicht. Als gutbürgerliche Anwohner mit einer Petition gegen den Bezug einer Villa am heutigen Rive-Ufer durch den Parteichef protestieren, reagiert Sindermann auf seine Weise. „Er hat mit den Leuten am Gartenzaun gesprochen.“
Kader alter Schule
Doch auch wenn Künstler sich um ihn drängen und Leute wie der Conférencier Günthi Krause ihn dafür loben, dass er noch jedes Auftrittsverbot mit einer Handbewegung außer Kraft zu setzen pflegt, ist Sindermann doch ein Kader alter Schule. Für ihn bleibt die Parteilinie Karte, Kompass und Wanderbuch zugleich. Er wettert gegen den Liedermacher Wolf Biermann, der ihn dafür später als „Sindermann - blinder Mann“ verspotten wird. Er warnt vor Aufweichungstendenzen in der Kulturpolitik. Und er kritisiert Robert Havemann, den prominentesten Kritiker des DDR-Regimes, als „faules Ei im Nest der Partei“.
Horst Sindermann ist ein 150-Prozentiger. Und sein Stern leuchtet mit dem erfolgreichen Aufbau in Halle immer heller am Himmel der DDR in ihren besten Jahren. In Halle dichten sie „Sindermann machts möglich“. In Berlin sieht Erich Honecker, der Walter Ulbricht gerade gestürzt hat, in Sindermann den Richtigen, nun die ganze Republik zu managen.
Der Parteimanager, dem Glaube an die richtige Sache immer mehr bedeutet hat als marxistisch-leninistische Theorie, steigt zum Regierungschef der DDR auf. „Er bekam allerdings gleich Günter Mittag als Vize an die Seite“, sagt Michael Sindermann, „das hat ihn erst gelähmt, dann hat er kapituliert.“ Der „hallesche Arbeitsstil“ (Sindermann) der kurzen Wege, des persönlichen Vertrauens und der Rückkopplung durch Kontakte zu Bauleitern, Arbeitern und Künstlern funktioniert nicht mehr. „Durch das Leben in Wandlitz fühlte er sich abgeschnitten, die Stimmung dort fand er eigenartig.“
Bedrohung für Honecker?
Zudem verachtet Sindermann den aus seiner Sicht amusischen Honecker ebenso wie den nach wirtschaftspolitischen Meriten jagenden Mittag. „Er war ja selbst Autodidakt, aber unheimlich gebildet, weil er im Gefängnis alles verschlungen hatte“, sagt sein Sohn der andererseits die Erfahrung macht, dass Kritik beim Vater nicht gefragt ist. „Kam man ihm damit, ist er wütend geworden.“
Empfindet Honecker ihn deshalb als Bedrohung? Oder macht sich Sindermann in Moskau Feinde, als er die Interessen der DDR über die Solidarität mit den Bruderländern stellt? Niemand weiß es. Fakt aber ist, dass Horst Sindermann sein Amt als Regierungschef nach nur drei Jahren verliert und auf den Posten des Präsidenten der Volkskammer abgeschoben wird.
Sindermann ist jetzt 61 Jahre alt, er wird Parlamentschef bleiben, bis die Mauer fällt und mit ihr die SED-Dominanz. Im November 1989 schließt ihn seine Partei aus, im Januar 1990 kommt er in Untersuchungshaft. Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes wieder auf freien Fuß, gesteht er ein, mitverantwortlich zu sein für „Fehler politischer und moralischer Art“. Nur zu einem Kriminellen werde er sich nicht machen lassen, sagt Horst Sindermann. Acht Wochen später stirbt der Mann, der an Halles Wiege zur Moderne stand, an einem Herzinfarkt.