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Wurzeln und Deutungen des Begriffes "Abendland" Wurzeln und Deutungen des Begriffes "Abendland": Im christlichen Abendland

Von Thomas Kröter 20.12.2014, 11:20
Die drei Weisen aus dem Morgenland verehren laut biblischer Geschichte das Jesuskind und erkennen die Überlegenheit des neuen Gottes an.
Die drei Weisen aus dem Morgenland verehren laut biblischer Geschichte das Jesuskind und erkennen die Überlegenheit des neuen Gottes an. dpa Lizenz

Berlin - Am 27. November 1095 fand in Clermont am Rande des französischen Zentralmassivs eine folgenschwere Demonstration statt. „Deus lo vult“ hallte es über den Platz am Osttor der Stadt, als Papst Urban II. zum ersten Kreuzzug aufrief. „Gott will es!“. Damals entstand, was die Menschen retten wollen, die Woche für Woche in Dresden und anderswo unter dem exotisch klingenden Kürzel „Pegida“ auf die Straße gehen.

Jerusalem, die heilige Stadt, wo Jesus zu Grabe getragen wurde und nach dem Glauben der Christen wieder auferstanden ist, sollte muslimischer Herrschaft entrissen werden. Darüber war sich die politisch tief zerstrittene Christenheit einig. In der gemeinsamen Aktion der Kreuzzüge gegen die Nachfolger Mohammeds konstituierte sie sich als „Abendland“. Als christliches Abendland.

Kampf der Religionen

Den Begriff allerdings prägte erst - mehr als zwei Jahrhunderte später - der Schweizer Theologe Kaspar Hedio. Das gilt auch für das entgegengesetzte „Morgenland“. Die Formulierung taucht zuerst in Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments auf, wenn er in der Weihnachtsgeschichte nach Matthäus von den „Weisen aus dem Morgenland“ spricht. Sie lassen sich von einem Stern zu Jesus führen, um dem neuen König der Könige zu huldigen.

Die Weisen aber, in späterer Überlieferung zu „Königen“ mutiert, benehmen sich so, wie die Protagonisten des christlichen Abendlandes sich bis heute die guten Morgenländer vorstellen: Sie wenden sich von ihrem alten Glauben ab und erkennen freiwillig die Überlegenheit des neuen Gottes an. Mit der Weisheit ihrer Unterwerfung machen sie das Morden und Brandschatzen der Kreuzritter überflüssig. Aber selbst diese friedliche Erzählung strotzt vom Überlegenheitsgefühl des Abendlandes über das Morgenland.

Jahrhunderte langer Kampf der Kräfte

In der realen Geschichte wogte der Kampf zwischen den Kräften der beiden Großreligionen über Jahrhunderte (wobei das Judentum lange vor dem Nationalsozialismus immer wieder fast zerrieben wurde). Schließlich setzte sich das Christentum in Europa durch. Der Islam beherrschte das Morgenland – politisch konnte es die Vorherrschaft des Westens nie wirklich abschütteln. So durfte das „christliche Abendland“ sich lange als Sieger der Geschichte fühlen.

Nach dem Ersten Weltkrieg lag es jedoch - ohne muslimisches Zutun - in Trümmern. Die Nationalismen der Einzelstaaten hatten die einstige Gemeinsamkeit vergessen lassen. Konservative und christliche (vornehmlich katholische) Denker beschworen nun den einigenden Geist des Christentums gegen Kapitalismus und vor allem den atheistischen Bolschewismus. Am Ende sollte Adolf Hitler den Vernichtungsfeldzug gegen Russland zur „Geburtsstunde des neuen Europa“ verklären, die Schlacht um Stalingrad als Beitrag zur „Rettung des Abendlandes“.

So richtig in Mode kam das christliche Abendland jedoch erst nach dem nächsten Weltkrieg. Wie schon Hitler hatte man es mit dem gottlosen Gegner im ganz nahen Osten zu tun. Vom Verbündeten gegen Nazi-Deutschland war er schnell zum Feind mutiert. Doch gegen die kommunistische Aggressivität machte sich der Rückgriff auf die blutigen Kreuzzüge schon wegen des grausamen Zwischenspiels des vorigen Abendlandretters nicht so gut. Also erinnerte man nicht an Urban II. sondern an Karl I., später „der Große“ genannt.

Praktischerweise umfasste sein Reich in etwa das Territorium, das 1957 den Grundstock der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bilden sollte. So konnte der einstige Schutzherr des christlichen Abendlandes auch geografisch perfekt zum Schutzheiligen der (west-)europäischen Einigung umfunktioniert werden.

Drei Hügel als Ausgangspunkt

Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, ein protestantischer Schöngeist, definierte das Abendland christlich, humanistisch und demokratisch. Es gebe drei Hügel, von denen es ausgegangen sei, sagte er 1950, „Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom“. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung hatte der rheinische Katholik Konrad Adenauer als Bundeskanzler den „Geist christlich-abendländischer Kultur“ als Fundament seiner Kanzlerschaft beschworen. In einem Atemzug begründete er die Ablehnung des Nationalsozialismus, die Westintegration und den Antikommunismus mit „christlich-abendländischen Werten“. Für ihn blieb die Integration Europas „die einzige mögliche Rettung des christlichen Abendlandes.“

Doch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend machte sich eine Entwicklung breit, die mit dem Abendland und der Grenzen seiner Staaten weit erbarmungsloser umgeht als fremde Heere es tun können: Die Globalisierung. Über den Verlust politischer und ökonomischer Autonomie hinaus nehmen die europäischen Gesellschaften immer mehr Menschen auf, die eher dem morgenländischen Islam zuneigen als den „christlichen Werten“, die obendrein von der fortschreitenden Säkularisierung des Abendlandes von innen pulverisiert werden.

Trotzig erfanden Adenauers Ahnen den Begriff der „christlichen Leitkultur“, der sich auch die hinzu Gekommenen zu unterwerfen hätten. Als Bundespräsident Christian Wulff, ein etwas anderer Enkel, die Entwicklung mit dem schlichten Satz anerkannte, „der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, hielten Politiker wie der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis trotzig dagegen: „Wir wollen, dass das christliche Abendland christlich weiterbesteht.“

Propheten des Untergangs

Oswald Spengler hätte diese Entwicklung nicht gewundert. Schon 1918 hat er das bis heute gültige Grundlagenwerk zum Thema geschrieben: „Der Untergang des Abendlandes“. Wie - beginnend mit der ägyptischen - sieben Hochkulturen zuvor von der Geschichte geschluckt worden sind, geht es auch mit der christlichen zu Ende. Phänomene wie Demokratie, Frauen-Emanzipation, „Erlahmen der vitalen Fruchtbarkeit“ und die „Diktatur des Geldes über die Macht“ kündigen Spengler zufolge das Unausweichliche an.

An die Stelle der christlichen tritt für den Propheten des Untergangs eine Kultur, der es nach aktueller westlicher Wahrnehmung gar nicht gut geht. Die russische. Vom Zarentum „westlich verfälscht“, habe der gewalttätige bolschewistische Kommunismus ihren Aufstieg zur Prägekraft der kommenden Epoche ermöglicht. „Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend“, orakelte Oswald Spengler. Wladimir Putin hätte ihm sicher nicht weniger gefallen wie so vielen „Pegida“-Demonstranten. (mz)