#wirsindmehr-Konzert in Chemnitz #wirsindmehr-Konzert in Chemnitz: Ein Drahtseilakt zwischen Protest und Event-Tourismus

Chemnitz - Maria S. steht an der Stelle, wo der Tischler Daniel H. erstochen wurde. Die 34-jährige Chemnitzerin schaut auf die Dutzenden Blumen und Kerzen, die dort liegen. Tränen laufen über ihr Gesicht. Ob das Konzert, das mehrere Bands an diesem Abend nur ein paar Hundert Meter weiter veranstalten, das Richtige sei, da ist sie sich nicht sicher. Die Musik dröhnt weit über die Gedenkstelle hinaus durch die ganze Innenstadt. Doch es sei das erste Mal, dass sie hierher kommen könne, erzählt Maria S., um zu trauern. Auch wenn sie Daniel H. nicht gekannt habe: „Es war immer noch ein Mord, der hier passiert ist.“
Bisher war der Platz besetzt, fest in der Hand von Wütenden und Rechten. Auch an diesem Abend ist eine kleine Gruppe da, aufgereiht an der Hauswand hinter der Gedenkstelle. Ein Mann hält ein Schild in der Hand auf dem steht: „Wir sind Bürger, keine Nazis. Ihr habt das Blut von Daniel H. an den Händen!“
Ein Konzert als Drahtseilakt zwischen Gegenbewegung und Eventtourismus
Tatverdächtig im Fall Daniel H. sind zwei Asylbewerber, ein Iraker und ein Syrer. Am Samstag nutzte die AfD die angestaute Wut, die Unzufriedenheit mit der Asylpolitik, um sich zum ersten Mal mit der fremdenfeindlichen Pegida und mit der Organisation Pro Chemnitz zusammenzuschließen, die von Experten als rechtsextrem eingestuft wird. Rentner und Hausfrauen vereinten sich auf der Straße mit Neonazis und Hooligans, 8000 waren es am Ende nach Schätzungen der Polizei. Die Gegendemonstranten waren, wie schon am Sonntag, am Montag und Donnerstag, als es wieder zu Protesten kam, weit in der Unterzahl.
Heute sind die Zahlenverhältnisse andere: Die Menge vor der großen Hauptbühne füllt den riesigen Parkplatz, schwappt über auf die Straßen dahinter, immer mehr Menschen strömen dazu. Nach ersten Schätzungen der Stadt sind es schon um 18 Uhr 65.000, die gekommen sind. Zwei Kundgebungen, die rechtsextreme Gruppen anmelden wollten, hat die Stadt Chemnitz an diesem Abend gar nicht erst genehmigt. Platz belegt, so die Erklärung. Das Motto, unter dem man sich hier trifft, geht an diesem Abend auf: „Wir sind mehr.“
Für die Bands ist das Konzert kein leichtes Unterfangen, ein Drahtseilakt, wie alles dieser Tage in Chemnitz. Viele werfen ihnen vor, dass sie Eventtourismus betreiben, dass sie mit Prominenz und Gratismusik Menschen aus ganz Deutschland locken, denen die Sache eigentlich egal ist. Man tanze auf dem Grab von Daniel H., sagen die Rechten. Verräterisch sei es außerdem, dass mit Feine Sahne Fischfilet eine Band auf dem Line Up stehe, die wegen gegen die Polizei gerichteten Songzeilen schon vom Verfassungsschutz beobachtet wurde – auch wenn sich die Gruppe davon heute distanziert.
Das hochkarätige Line Up stand nach 20 Minuten
Kraftklub, eine der bekanntesten Indierock-Bands des Landes, haben das Konzert initiiert. Die fünf Bandmitglieder sind in Chemnitz aufgewachsen, leben noch immer hier - und haben der Stadt eine Hymne geschenkt. „Ich komm‘ aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler“, singen sie mit Stolz in ihrem Song „Karl-Marx-Stadt“. Sie haben ihre Kontakte genutzt, haben Freunde angerufen, viele davon aus dem Osten. In nur 20 Minuten habe das hochkarätige Line Up gestanden, erzählt Kraftklub-Frontmann Felix Brummer: die Toten Hosen, die Rapper Marteria, Nura und Casper, die Punkrock-Band Feine Sahne Fischfilet und der Reggae-Künstler Trettmann, ebenfalls aus Chemnitz.
Jeder hat einen anderen Grund, dabei zu sein. Marteria alias Marten Laciny stammt aus Rostock-Lichtenhagen. Er hat miterlebt, wie sich 1992 in seiner Heimatstadt Hass gegen vietnamesische Gastarbeiter in einer pogromartigen Stimmung entlud, die tagelang anhielt. Zehn sei er da gewesen, erzählt er auf der Bühne, habe „heulend mit seiner Mutter und seiner Schwester in der Küche gesessen“ und zugesehen, wie sich der Mob zusammenrottete und applaudierte, als Molotowcocktails auf das Zuhause der vermeintlich Fremden flogen. Danach hätte es eine kilometerlange Lichterschlange der Solidarischen gegeben, ein Zeichen der Hoffnung. Marteria setzt sein eigenes Zeichen: „Ich will eure Mittelfinger sehen!“, ruft er ins Mikrofon. „Mittelfinger gegen Rassismus!“ Die Menge gehorcht willig, die Hände recken sich in die Höhe.
Immer wieder erklären die Künstler sich, stimmen Sprechchöre an. Das hier soll kein normales Konzert sein, keine reine Party. „Nazis raus, Nazis raus“ und „Alerta, Alerta, Antifascista“, schallt es dann aus Tausenden Kehlen. Da, wo nur wenige Tage zuvor „Volksverräter“- und „Lügenpresse“-Schreie dominierten.
Ein Zeichen gegen „die Schande“
Sicher, einige in der Menge sind nur wegen der Musik hier. „Weil KIZ spielen“ oder „Für Casper“, sagen sie auf die Frage nach dem „Warum?“. Fabian F., 32 Jahre alt, stört das nicht, auch wenn er selbst mit einer Mitfahrgelegenheit aus Hannover angereist ist, um ein Zeichen „gegen Menschenfeindlichkeit“ zu setzen. „Auch die Leute, die nur wegen des Konzerts kommen, wissen, was sie für eine Botschaft senden: Sie zeigen Masse, sie zeigen, wer das Volk ist.“
Am meisten bedeutet das den gebürtigen Chemnitzern und den Neuzugezogenen, die an diesem Abend hier sind. Jörg Franik, 55 Jahre alt, geboren in Chemnitz, nie weggezogen, steht mit einem Freund weit vorne beim Konzert. Er will hier „Gesicht zeigen“, für ihn ist das ein Zeichen gegen die „katastrophalen Zustände“ und die „riesengroße Schande“, die AfD, Pegida und Pro Chemnitz mit der Instrumentalisierung von Daniel H. über seine Stadt gebracht haben.
Hamid S. hingegen ist neu in Chemnitz, der 21-Jährige ist aus Afghanistan geflüchtet, seit sieben Monaten lebt er in der Stadt. Trotzdem ist er am Samstag zur Gegendemo gegangen, obwohl Opferverbände Migranten davor warnten. Ein Freund von ihm sei am Samstag von Nazis krankenhausreif geschlagen worden, er zeigt Fotos von dessen blau und rot geprügelten Gesicht auf seinem Smartphone. An diesem Abend aber sei alles anders: „Heute muss ich keine Angst haben“, sagt der 21-Jährige und nickt in Richtung Bühne. „Heute ist alles gut.“
Doch viele fragen sich, noch während die Musik läuft und die „Nazis raus“-Schreie schallen, was morgen sein wird. „Wenn das alles vorbei ist, wenn die Presse weg ist“, sagt Maria S. „dann bleiben wir hier in Chemnitz mit all diesen Menschen, die nicht wissen, wohin mit ihrer Wut.“
