Wende 89 Wende 89: Genschers Halbsatz führte in die Freiheit

Prag - Sogar am Eingangstor standen schon Betten, als sich der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher einen Weg durch die Prager Botschaft bahnte. Auch im großen Treppenhaus lagen am 30. September 1989 die DDR-Flüchtlinge, jeweils zwei auf einer Stufe. Etwa 4000 von ihnen waren in die bundesdeutsche Vertretung geströmt, um einen Weg in den Westen zu finden.
Erlösende Worte auf dem Balkon
Dann sprach Genscher kurz vor 19 Uhr vom Balkon die erlösenden Worte: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“ Dass sie in der Tat möglich geworden war, ging im Jubel unter. Für Genscher, der gerade einen Herzinfarkt hinter sich hatte, war es das schönste Erlebnis seiner Amtszeit.
Anmerken ließ er sich das kaum. „Ich hatte mir vorgenommen, ganz nüchtern und schmucklos zu sprechen“, sagt der heute 87-Jährige. Er habe nicht triumphierend wirken wollen, um den Gegnern der Ausreise im SED-Regime keine Argumente zu liefern. Sogar die Kameraleute sollten draußenbleiben - kletterten dann aber doch über den Zaun oder filmten vom Dach eines Trafohäuschens.
Dem Erfolg waren schwierige und harte Verhandlungen vorausgegangen. „Wir schicken niemanden auf die Straße, und wir bauen keine Mauern um unsere Botschaften“, sagte der damalige Kanzleramtsminister Rudolf Seiters der DDR-Führung. Der CDU-Politiker stand an jenem Abend direkt neben Genscher. Er erinnert sich an den Blick in den „nachtdunklen und verschlammten“ Garten, den Jubel, die übergroße Freude, Dankbarkeit und Erleichterung der Flüchtlinge.
Dramatische Dimensionen der Fluchtbewegung
DDR-Bürger hatten über die Jahre immer wieder den Weg in das Palais Lobkowicz in Prag gefunden. Doch im Spätsommer vor 25 Jahren nahm die Fluchtbewegung aus dem Osten Deutschlands dramatische Dimensionen an. Das Rote Kreuz stellte Zelte und Betten auf. „Es gab keine freie Stelle“, sagt die damalige Rotkreuz-Einsatzleiterin Waltraud Schröder. Vom Dachboden bis zum Heizungskeller war mit Ausnahme der Wohnung von Botschafter Hermann Huber alles belegt. Kinder habe man in den Feldbetten quergelegt, um Platz zu gewinnen.
Die gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 gelten bis heute als wichtige Wegmarke für den Umsturz in der DDR. Sechs Monate später fiel die Mauer, am 3. Oktober 1990 folgte die deutsche Einheit, der kommunistische Staat existierte nicht mehr. Eine Chronologie:
In der DDR finden die letzten Kommunalwahlen nach dem Einheitslistenprinzip statt. Nach offensichtlichen Wahlfälschungen protestieren Oppositionelle öffentlich gegen den Wahlbetrug.
DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker besucht Moskau und lehnt es ab, in der DDR Reformen zuzulassen. Im Laufe des Sommers fliehen unzählige DDR-Bürger in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin sowie in die Botschaften in Budapest, Warschau und Prag.
In Leipzig versammeln sich nach dem traditionellen Friedensgebet in der Nikolaikirche mehrere hundert Menschen vor dem Gotteshaus. Sie fordern Reisefreiheit und die Abschaffung der Staatssicherheit. Daraus entstehen die Montagsdemonstrationen.
Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich, die Massenflucht von DDR-Bürgern beginnt. Zehntausende Ostdeutsche reisen in den Westen aus.
Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündet 6000 Flüchtlingen in Prager Botschaft, dass die DDR die Ausreise genehmigt hat. Sie reisen in versiegelten Sonderzügen durch die DDR in die BRD.
Bei seinem Besuch zum 40. Jahrestag der DDR in Ost-Berlin mahnt der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow grundlegende Reformen an.
In Leipzig gehen 70 000 Menschen auf die Straße, um friedlich für Reformen zu demonstrieren. Die Staatsmacht greift nicht ein, das befürchtete Blutvergießen bleibt aus.
Egon Krenz löst Erich Honecker als SED-Generalsekretär ab. Er kündigt eine „Wende“ an, doch die Kundgebungen gehen weiter.
Die DDR-Regierung tritt zurück, tags darauf auch das SED-Politbüro. Krenz wird als Generalsekretär bestätigt. Im neu formierten Politbüro, dem höchsten Machtzirkel, herrscht Konfusion.
Das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski kündigt auf einer Pressekonferenz eher beiläufig an, die DDR werde ihren Bürgern künftig Reisefreiheit gewähren und mit sofortiger Wirkung die Grenzen öffnen. Bis in die Nacht strömen Tausende in den Westen. Nach 28 Jahren ist die Mauer gefallen.
In der DDR finden die ersten freien Volkskammerwahlen statt. Klarer Sieger ist die konservative Allianz mit der CDU an der Spitze. Lothar de Maizière (CDU) wird Ministerpräsident.
Der Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion wird unterzeichnet. Für Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ist dies die „Geburtsstunde eines freien und einigen Deutschlands“.
Die Wirtschafts- und Währungsunion tritt in Kraft.
Mit klarer Mehrheit bestimmt die Volkskammer den 3. Oktober als Tag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik. Ende August wird in Ost-Berlin der Einigungsvertrag unterschrieben.
Der Beitritt wird vollzogen, beide Teile Deutschlands sind wieder vereint. Der Tag der Deutschen Einheit ist seitdem Feiertag.
Oft fehlte es am Nötigsten. „Das Eigenartige war: an Alkohol hatten alle gedacht, nur nicht an die Babyflaschen“, erinnert sich Schröder. Nachschub musste besorgt, schreiende Kinder mussten besänftigt werden. Und das wochenlange Zusammenleben auf engstem Raum war nicht einfach. „Aggressiv wurden natürlich häufig diejenigen, die die Geduld verloren“, sagt die heute 78-Jährige. Sie glaubten, es ginge endlich los - und wurden wieder enttäuscht.
Wie der Alltag unter den Flüchtlingen aussah und wie sich die gute Nachricht rasend schnell verbreitete, lesen Sie auf Seite 2.
Stundenlanges Anstehen vor den Toiletten gehörte zum Alltag. Groß war die Angst, dass eine Seuche ausbrechen würde und das Gelände geräumt werden müsste. Einmal sagte Schröder dem damaligen Botschafter Huber: „Ich kann die Garantie für die Sicherheit der Menschen hier nicht mehr übernehmen.“ Dann raufte man sich wieder für einige Zeit zusammen.
In Bonn war man überzeugt, dass die DDR-Führung an einer baldigen Lösung interessiert sein musste. „Die emotionalen Bilder von den Botschaftsflüchtlingen in der Prager Botschaft gingen um die Welt und schädigten Tag für Tag das internationale Ansehen der DDR“, sagt Seiters. Weil die großen Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen der DDR am 7. Oktober 1989 vor der Tür standen, musste dies für die SED-Führungsriege zur Unzeit kommen.
Doch den Durchbruch brachte erst ein Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse am Rande der UN-Vollversammlung in New York: Genscher schilderte ihm die untragbare Lage der Flüchtlinge und bat den Reformer um Hilfe. Als der Georgier hörte, dass Kinder dabei seien, sagte er: „Ich helfe Ihnen.“ Ost-Berlin musste auf sowjetischen Druck einlenken. Zwei Tage später reisten Genscher und Seiters in die überfüllte Botschaft.
Der Dresdner Musiker Markus Rindt war gerade auf dem Weg nach Ungarn, das seine Grenzen geöffnet hatte, als ihn die Nachricht von der Genscher-Rede erreichte. „Ich hörte von einem Freund, dass alle raus sind aus der Botschaft“, sagt er. Spontan stellte er seine Fluchtpläne um. Statt durch die Donau zu schwimmen, überwand er am 3. Oktober die Absperrungen in den Straßen der Prager Kleinseite.
Riesenjubel und Gezerre
Dann kam die Nachricht, dass auch dieser zweite Schwung an Botschaftsbesetzern ausreisen durfte. „Es brach ein Riesenjubel los, und dann gab es ein unglaubliches Geschiebe und Gezerre“, erinnert sich Rindt. Doch es sollte noch Stunden dauern, bis es wirklich losging. Auch diesmal wurden die Züge in die Bundesrepublik über DDR-Gebiet geleitet. Es sei ein komisches Gefühl gewesen: „Fahren die Züge wirklich einfach nur durch oder ist es eine Falle?“ Dem DDR-Regime habe er alles zugetraut, sagt Rindt.
In der DDR hatte sich der Hornist eingesperrt gefühlt - schon als Kind hing er über Atlanten und studierte den Globus. Manch einer habe ihm gesagt, um die Welt reisen, das könne er doch auch noch als Rentner. „Als 20-Jähriger lässt man sich auf so was nicht ein, das fand ich wirklich unerträglich“, sagt Rindt. Heute geht der Intendant mit seinen Dresdner Sinfonikern auf Tourneen.
Der Beginn des Untergangs der DDR
Jeder Botschaftsbesetzer hatte seine eigenen Gründe für die Flucht in den Westen. Zusammengenommen rüttelten sie alle an der Mauer. „Der 30. September markiert den Beginn des Untergangs der DDR“, ist sich Seiters rückblickend sicher. Die Ausreise der Unzufriedenen brachte dem SED-Regime um Erich Honecker nicht die erhoffte Entlastung. Der Druck wuchs und wuchs, bis der SED-Funktionär Günter Schabowski am 9. November - eher ungewollt - die Mauer öffnete.
Um an die Dramatik des Wendejahrs zu erinnern, werden zum 30. September im Garten der deutschen Botschaft im Prager Stadtteil Hradschin noch einmal Gulaschkanonen und Zelte aufgestellt. Eine Trabi-Sternfahrt erinnert an die vielen Ostautos, die von den Flüchtlingen vor 25 Jahren in Prager Straßen Hals über Kopf zurückgelassen wurden. Möglicherweise wird auch Genscher mit Flüchtlingen und Helfern von damals zusammenkommen. (dpa)