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Veit Wolpert kontra Rainer Kleibs Veit Wolpert kontra Rainer Kleibs: «Erziehung ist Recht und Pflicht»

23.02.2011, 15:54

Halle (Saale)/MZ/BOE. - Die FDP verstehtsich als Partei des Mittelstandes und derLeistungsträger. Geraten Menschen am unterenRand der Gesellschaft aus ihrem Blickfeld?In Sachsen-Anhalt hat die Armut ein erschreckendesAusmaß. Welche Wege gibt es für die Menschen,aus dieser Situation herauszukommen? Überdiese Fragen diskutierten Veit Wolpert, Spitzenkandidatder FDP für die Landtagswahl am 20. März,und Rainer Kleibs, Landesgeschäftsführer desDRK.

Kleibs: Die Zahlen sind alarmierend.Bezogen auf den Bundesdurchschnitt ist mehrals jeder fünfte Sachsen-Anhalter sowie jedesdritte Kind von Armut bedroht. Und wer armist, der hat schlechtere Bedingungen. Michtreibt die Frage um, wie kriegen wir es hin,dass vor allem Kinder in ihren Chancen dadurchnicht beeinträchtigt werden? Die FDP verstehtsich als Partei des Mittelstandes. Da kommendiese Menschen nicht vor. Sie fallen rausaus der Diskussion.

Wolpert: Nein, das tun sie nicht.Der Schlüssel gegen jegliche Armut ist letztlichBildung, eines unserer wichtigsten politischenAnliegen. Der Bildungsgrad bestimmt den materiellenAnteil am Wohlstand. Deswegen finde ich esrichtig, dass bei der Neugestaltung der Hartz-IV-Gesetzgebungauch auf Vorschlag der FDP den Kindern Bildungsmöglichkeiteneröffnet werden. Die Bildungsgutscheine kommendirekt bei den Kindern an. Eltern haben keineMöglichkeit, das Geld für andere Zwecke auszugeben,was sie ja möglicherweise gar nicht aus Böswilligkeit,sondern einfach aus gewissen Zwängen heraustun würden. Ob das funktioniert, werden wirin zwei, drei Jahren sehen. Ich erwarte schoneine Verbesserung der Chancen dieser Kinder.Bildung heißt ja nicht nur, dass jemand Rechnenund Schreiben kann. Bildung ist erlebte Kultur.Dazu gehört das Gemeinschaftserleben im Sportvereingenauso wie in der Musikschule.

Kleibs: Sicher, aber ich habe Zweifel,dass das am Ende Wirkung zeigt. Notwendigsind nämlich flankierende Maßnahmen. Was nutztes, wenn das Kind den Gutschein für einenSportverein in der Hand hat, aber dort garnicht hinkommt, weil der öffentliche Personennahverkehrfehlt. Für Halle mag das kein Problem sein.Aber in ländlichen Regionen? Am Ende brauchtes die Mutter oder den Vater, die das Kindmit dem Auto fahren. Und das ist bei vielenHartz-IV-Empfängern eben nicht möglich.

Wolpert: Da haben Sie völlig Recht.Für den öffentlichen Personennahverkehr müssenLösungen gefunden werden. Im Kreis Anhalt/Bitterfeld,da wo ich herkomme, wurde der Rufbus erfunden.Der kommt bei Bedarf. Manchmal sind es nurTaxis, die für das geringe Personenaufkommeneingesetzt werden. Die Leute kommen an ihrZiel und wieder nach Hause. Das ist allemalbilliger, als regelmäßig Busse fahren zu lassen.Ich will nicht sagen, dass das landesweitein Allheilmittel ist. Aber so kann auch sichergestelltwerden, dass die Kinder zu ihrem ihren Sportvereinoder zum Musikunterricht und auch wieder nachHause kommen. Dafür zu sorgen, dass jederHartz-IV-Empfänger ein Auto hat, ist nichtAufgabe der Gesellschaft, wir müssen ihnenaber Mobilität ermöglichen.

Kleibs: Hier kommt auch das Ehrenamtins Spiel. Die Politik müsste dafür noch bessereRahmenbedingungen setzen.

Wolpert: Sie spielen auf den Vateran, der die Jungs aus dem Dorf mit seinemAuto zum Fußball fährt und dabei wie einePrivatperson haftet. Im Grunde ist jeder verrückt,der so etwas macht. Passiert ein Unfall, zahltder betreffende Vater lebenslang. Nur weiler am Steuer gesessen und eigentlich etwasGutes gemacht hat. Wir haben zum Ehrenamtvor geraumer Zeit einen Allparteienantragins Parlament eingebracht. Ein Anliegen wareine Haftungsprivilegierung. Hier haftet derVater bei einem Unfall nur noch, wenn er grobfahrlässig gehandelt hat. So etwas zu installieren,wäre eine Gesetzesaufgabe. Es wurde zwar darübergesprochen. Aber umgesetzt wurde es nicht.Deshalb werden wir einen neuen Versuch starten.Dabei könnte das Ehrenamt so viel attraktiverwerden. Gerade auch für Menschen jenseitsder 65. Die wollen sich nicht aufs Altenteilzurückziehen.

Kleibs: Nein, die sind engagiert,wollen noch etwas tun. Aber lassen Sie michnoch auf einen anderen Punkt kommen: Bildungfängt ja schon früher an, nämlich im Kindergartenan. Ich bin der Meinung, jedes Kind solltedie Möglichkeit haben, hier den ganzen Tagzu verbringen. Nicht nur, wenn die Elternarbeiten gehen. Kinder, die mittags abgeholtwerden müssen, verbringen den Nachmittag oftmalsvor dem Fernseher oder dem Computer. Für dieseKinder wäre ein Ganztagsanspruch notwendig.Dies schließt auch Lücken, wenn Eltern nichtüber die entsprechende Erziehungsfähigkeitverfügen.

Wolpert: Da bin ich grundsätzlichanderer Auffassung. Erziehung ist Elternrechtund Elternpflicht. Und mit dem Ganztagsanspruchwürden Eltern aus ihrer Verantwortung entlassen.Ja, wo die Erziehungsfähigkeit noch nichterreicht beziehungsweise verloren gegangenist, da muss geholfen werden. Aber mit demRecht auf Ganztagsbetreuung auch für Kindervon Arbeitslosen würde Menschen das Verantwortungsbewusstseinabtrainiert.

Kleibs: Lassen Sie mich noch einenweiteren Aspekt aufwerfen. Ich würde mir wünschen,dass die FDP den sozialen Sektor stärker alsWirtschaftssektor im Blick hätte. Wir sindein Teil des Mittelstandes und werden da oftnicht beachtet.

Wolpert: Ich gebe zu, es ist etwasschwierig, soziale Träger wie das DRK alsrein wirtschaftliche Unternehmen zu betrachten.Sie sind aus sich heraus nicht produktiv.Im Gegenteil, der oberflächliche Eindruckist, dass sie eigentlich nur Geld kosten.Die Produktivität liegt natürlich in der sozialenLeistung. Das zu begreifen ist für einen Volks-oder Betriebswirt schwierig. Natürlich - dieserBereich muss so ausgestattet sein, dass sinnvollgeholfen werden kann. Aber unser Land hatgroße finanzielle Probleme. Und da müssenwir eine ehrliche Diskussion führen. Bei demThema soziale Gerechtigkeit geht es oft nurdarum, dass derjenige, der Hilfe braucht,auch ausreichende Hilfe kriegt, um in Würdezu leben. Aber Gerechtigkeit ist immer auchein Ausgleich von Interessen. Der DRK-Mitarbeiterals Leistungsträger beispielsweise, bei Ihnenden Rettungswagen fährt, muss mit seinen Steuergelderndiese Leistung mitfinanzieren. Und da mussgefragt werden: Was ist dem zuzumuten? Waskann der tatsächlich leisten? Wann überfordereich ihn?

Kleibs: Sicher, die Wohlfahrt in Sachsen-Anhaltbetont natürlich sehr stark die Unterstützungderjenigen, die in eine schwierige Situationgekommen sind - aus welchen Gründen auch immer.Aber wir gehen auch einen Schritt weiter,und da würde ich uns eher als produktivenTeil der Gesellschaft sehen. Wir wollen Menschenbefähigen, aus dieser Situation wieder herauszukommen.Und wir legen Wert auf Prävention.

Wolpert: Ich halte den Bereich derPrävention für wahnsinnig wichtig. Bei denHaushaltsberatungen 2009 war in der Diskussion,die Beratungslandschaft auszudünnen. Die FDPhat damals einen Antrag in den Landtag eingebracht,in dem wir eine Konzeption gefordert haben,aus der hervorgeht, wie beraten werden sollund was das kosten darf. Dieser Antrag istdann in einer geänderten Form angenommen worden.Das Konzept fehlt bis heute. Aber ich denke,es ist der richtige Anfang.

Das Menschenbild, von dem die FDP ausgeht,betont die Freiheit mit Eigenverantwortung.Aber das funktioniert in manchen Bereichennur mit Hilfe von Außen. Ich will es an einemBeispiel sagen. Mein Sohn wird jetzt zweiJahre alt. Am Anfang haben wir ihn gefüttert.Das wollte er auf Dauer nicht. Er wollte selbstbestimmen, wann er welchen Löffel in den Mundführt. Ich glaube es geht jedem so, egal wiebeeinträchtigt er ist. Jeder Mensch will dieeigene Freiheit möglichst in eigener Verantwortungausleben - soweit es ihm möglich ist. Vielehaben das verlernt. Die muss man da wiederheranführen. Die Frage ist nur, was wir unsda leisten können.

Kleibs: Prävention darf nicht unterdem Vorbehalt der Finanzierbarkeit stehen.Da wünsche ich mir auch an der Parteienfronteine klarere Botschaft. Prävention hat einestarke Zukunftsorientierung. Eine Gesellschaftbraucht ein Mindestmaß an Werten, an Grundkonsens.Wenn wir das Kindern heute vermitteln, dannwird das erst in zehn, 15 Jahren wirksam werden,vielleicht auch erst in 20 und 25 Jahren.Wir haben da inzwischen einen großen Nachholbedarf.Und Sachsen-Anhalt braucht dazu eine Beratungslandschaft.Es ist sogar zu überlegen, ob die nicht vorübergehendausgedehnt werden muss.

Wolpert: Völlig richtig, ohne dieVermittlung von Werten geht es nicht, wirdürfen aber den Vorbehalt der Finanzierbarkeitnicht verlassen. Ich glaube, wir sollten unsauch da nicht in die Tasche lügen, nicht denAnschein verbreiten, wir könnten mehr, alswir wirklich können. Die Frage ist doch, habenwir andere Möglichkeiten? Können wir anderePrioritäten setzen? Und da bin ich in einemPunkt ganz zuversichtlich. Sachsen-Anhalthat inzwischen eine Schuldenbremse. Sie istzwar nicht, wie wir gehofft hatten, in derLandesverfassung verankert, sondern nur imHaushaltsgesetz. Aber sie hat folgendes bewirkt:Früher konnte man Schulden machen in der Höhe,in der man Investitionen nachwies. Investitionenwaren in jedem Fall Investitionen in Betonund nicht in die Köpfe. Jetzt kommt es aufdieses Kriterium nicht mehr an. Wir habenein begrenztes Budget aber ein deutlich breiteresEinsatzfeld. Einziges Kriterium ist: keineneuen Schulden. Da wir die Menschen in Arbeitbringen wollen, und zwar in eine gut bezahlteArbeit, sollte das wenige Geld in Forschungund Entwicklung gesteckt werden. Dort entstehtInnovation, dort entstehen weltweit konkurrenzfähigeProdukte, die wir zu Preisen verkaufen können,die dann hohe Löhne rechtfertigen.

Kleibs: Ich bin sehr für Forschungund Innovation. Ich finde es aber nachteilig,diese nur auf die Technik zu konzentrieren.Wenn ich mir den sozialen-medizinisch-pflegerischenSektor anschaue, da ist derart viel Innovationmöglich. Der demografische Wandel bietet dieChance, gerade hier viel auszuprobieren.

Wolpert: Sagen wir doch, dass wirMut für neue Wege brauchen.

Kleibs: Lassen Sie uns zu guter Letztnoch über das Thema Fachkräftemangel sprechen.Wenn wir da in die Zukunft schauen, müssenwir uns ernsthaft Sorgen machen. Meine Frageist, wie kriegen wir zum Beispiel Schülermit Hauptschulabschluss oder Menschen diekeinen Abschluss gemacht haben, dazu, dasssie am Ende zu Fachkräften werden? Wir werdensie brauchen.

Wolpert: Das glaube ich auch. Wirhaben derzeit 20 Prozent Schulabbrecher, wirhaben 20 Prozent Ausbildungsabbrecher. Ganzoffensichtlich gibt es da auch einen Fehlerim System. Es gelingt uns nicht, Menschenklar zu machen, dass man Erfolg in der Arbeitals Lebenslust empfinden kann. Meines Erachtensbesteht die Lösung des Problems auch hierin der Liberalisierung. Zum Beispiel könntenTeilaspekte aus einem Berufsbild herausgenommenwerden und als Abschluss anerkannt werden.

Kleibs: Wunderbar.

Wolpert: Und diese Modulisierung istein Schlüssel, wie man Leuten, die nicht dasganze Programm geschafft haben, nicht dieTür vor der Nase zuschlägt. Sie werden eingelassen,auch wenn sie nur einen Teil der Arbeitenausführen können. Die Wirtschaft ist nichtvöllig dagegen. Es gibt aber noch Ressentiments,weil sie natürlich Angst um Berufsbilder undQualität hat.

Kleibs: Wenn das Problem an den Berufsbildernliegt, dann finden wir eine Lösung. Ich habenur ein Problem damit, dass Menschen, dieeinen Hauptschulabschluss haben, am Ende formalnicht in die Lage versetzt werden, über andereWege einen Berufsabschluss zu gewinnen. Ichdenke, das hat auch nichts mit Qualitätsabbauzu tun, sondern mit andersartigen Zugängenzum Arbeitsmarkt, die am Anfang vielleichtniederschwelliger sind. In mir finden Sieeinen Fan von Modulen. Das erzeugt bereitsnach Abschluss eines Moduls beispielsweisenach einem halben Jahr ein Erfolgserlebnis.

Wolpert: Natürlich. Motivation istdie stärkste Kraft des Menschen. Wenn jemanderlebt hat, dass Erfolg Spaß macht, versuchter, wieder Erfolg zu haben. So bringe ichLeute zum Arbeiten und Lernen. Wer einmalein Tor geschossen hat, wird immer wiederdem Ball hinterherrennen. Die Frage ist nur,wie kriegen wir ihn dahin, dass er einmaldas Tor trifft.

Kleibs: Da werden wir die Arbeitgeberbrauchen.

Wolpert: Ja, ich bin mir ziemlichsicher, bei den Arbeitgebern wird es ein Umdenkengeben. Zum Teil gibt es das schon. Es gibtaber auch Unternehmen, die früher nicht ausgebildethaben und jetzt nach dem Staat schreien, dersollte endlich mal die Arbeitskräfte bringen.Da muss ich sagen, bin ich als FDP nicht unternehmerfreundlich.Denen sage ich dann schon Bescheid, was siefür eine Verantwortung haben und gehabt hätten.

Rainer Kleibs, Geschäftsführer im Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes in Sachsen-Anhalt. (FOTO: ARCHIV/REPRO/MZ)
Rainer Kleibs, Geschäftsführer im Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes in Sachsen-Anhalt. (FOTO: ARCHIV/REPRO/MZ)
CARDO