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Tagespflege Tagespflege: Eine Brücke zum Heim

Von Bärbel Böttcher 12.12.2011, 11:35

Halle (Saale)/MZ. - Heute wird am "Drosselweg" in Halle gekegelt. Für die demenzkranken Männer und Frauen, die in dieser Tagespflege-Einrichtung der AWO betreut werden, ist das der Höhepunkt der Woche. "Kegeln steht ganz oben auf der Wunschliste unserer Gäste", sagt Einrichtungsleiterin Christin Smolinski. "Das könnten wir jeden Tag machen."

Es sind Gäste, die hierherkommen, keine Patienten. Daraus legt Christin Smolinski großen Wert. Und natürlich auch darauf, die Tage abwechslungsreich zu gestalten. Es wird nicht nur gekegelt, sondern auch gebastelt, gemalt, gesungen. Gymnastik und Gedächtnistraining stehen genauso auf dem Programm wie Spaziergänge an der frischen Luft. Und wenn es der Wunsch der Angehörigen ist, kann hier auch ein Teil der Körperpflege übernommen werden. Dafür steht in der Einrichtung, die es seit April vergangenen Jahres gibt, ein modernes Pflegebad zur Verfügung.

"Jeder Tag hat eine feste Struktur. Das ist ganz wichtig für Demenzkranke", sagt Melanie Nitschke, eine der zwei Pflegefachkräfte, die in der Einrichtung beschäftigt sind. Es sei ganz schlimm, wenn etwas aus dem Rahmen falle. Gleichzeitig würden die Männer und Frauen im Rahmen ihrer Möglichkeiten in alle Alltagsaktivitäten einbezogen. "Sie helfen beispielsweise beim Tischdecken oder Abwaschen. Das gibt ihnen das gute Gefühl, gebraucht zu werden."

16 Gäste kann die Tagespflege täglich aufnehmen. Manche kommen einmal in der Woche, andere an allen fünf Werktagen. Sie bleiben für einige Stunden oder auch den ganzen Tag. Den Angehörigen, die ansonsten die Pflege übernehmen, verschafft das Luft. Luft, die sie brauchen, um eigenen Verpflichtungen oder Bedürfnissen nachzugehen, um Kraft zu tanken, für die körperlich wie nervlich aufreibende Betreuung eines Demenzkranken.

Dennoch scheuen sich viele, ihren Angehörigen tagsüber "wegzugeben". "Viele warten lange, oft zu lange, bis sie sich für eine Tagespflege entscheiden", sagt Christin Smolinski. Demenz, so fügt sie hinzu, sei in unserer Gesellschaft noch immer ein großes Tabu-Thema. Die Angehörigen empfänden oft Scham, zögen sich zurück. Die Krankheit sei den Betroffenen ja nicht anzusehen. Und so werde sie überspielt - solange, bis es nicht mehr geht. Aber auch das Gefühl, den Partner abzuschieben und die Angst davor, was die Nachbarn wohl dazu sagen würden, lasse viele Zögern, sich Entlastung zu verschaffen. "Dabei nutzt es doch keinem was, wenn der Pflegende am Ende selbst nicht mehr kann. "

Auch Karin Ohme ist es anfangs nicht leicht gefallen, ihren Ehemann in die Tagespflege-Einrichtung zu bringen. Vor sieben Jahre wurde bei dem heute 80-Jährigen die Diagnose Alzheimer gestellt. Anfangs betreute Karin Ohme ihn zu Hause, hatte nur stundenweise Hilfe. Dann kam er einmal in der Woche zum "Drosselweg". Inzwischen sind es fünf Tage. "Leicht ist mir dieser Schritt nicht gefallen", sagt die 72-Jährige. "Schließlich sind wir ein Leben lang zusammen gewesen.

Seit 50 Jahren ist das Paar verheiratet. Und doch lebt Karin Ohme heute praktisch mir einem Fremden zusammen. "Mein Mann war ein Hans Dampf in allen Gassen. Er hat gelesen, gebastelt, gebaut, sich für alles interessiert", erzählt sie. "Heute erkennt er die eigene Tochter nicht mehr. Und ich weiß auch nicht, wer ich für ihn bin. Selbst wenn wir den ganzen Tag zusammen sind - es ist keine Kommunikation möglich." Ihr Mann lebe in einer fernen Vergangenheit, fange beispielsweise immer wieder an, von seiner Schulzeit während des Krieges zu erzählen.

Ist Herr Ohme zu Hause, werde 1 000 Mal die gleiche Frage gestellt. Von einer Minute auf die andere könne die Stimmung auch umschlagen. "Dann brüllt er mich an, ruft laut nach der Polizei weil er meint, dass ich ihm die Wohnung wegnehmen will oder dass sich fremde Leute in der Wohnung aufhalten." Mitunter werde er auch körperlich aggressiv. Ständig müsse aufgepasst werden, dass er nicht wegläuft. An ein Durchschlafen in der Nacht sei schon lange nicht mehr zu denken.

Damit umzugehen, dass musste Karin Ohme erst lernen. Anfang sei sie oft ausgerastet. Doch sie habe bald begriffen, dass das nichts nützt. Sie hat das Wissen mühsam selbst erarbeitet - durch Fachliteratur. In der Tagespflege-Einrichtung gibt es jetzt regelmäßig Angehörigen-Nachmittage. Dort werden Erfahrungen ausgetauscht - auch darüber, wo sich Angehörige Hilfe holen können.

"Wer einen Demenzkranken betreut", sagt Karin Ohme, "hat kein eigenes Leben mehr. Er gibt seine Persönlichkeit auf, ist nur noch für den Kranken da." Das sei eine unglaubliche nervliche Belastung. Es sei deshalb ein Glück, dass es die Möglichkeit der Tagespflege gebe. Während ihr Mann dort betreut werde, könne sie ihren Beschäftigungen nachgehen.

Karin Ohme treibt dann Sport, pflegt den Garten und schreibt Geschichten über ihr Leben - für die Enkel. "Anfangs", so räumt sie ein, "hatte ich schon die Befürchtung, dass mein Mann sich außerhalb der eigenen vier Wände nicht wohlfühlt. Doch das ist nicht so." Inzwischen könne sie in der Zeit, in der er hier betreut wird, richtig abschalten.

Und ist ihr in all der Zeit nicht schon einmal der Gedanke gekommen, ihren Mann ganz in einem Pflegeheim betreuen zu lassen? "Ja", gibt sie unumwunden zu. Eine Woche lang hat sie ihn schon einmal probeweise dort untergebracht - und dann wieder nach Hause geholt. Den Aufenthalt haben wohl beide Seiten nicht so gut verkraftet.

Und doch ist die Tagespflege nur eine Zwischenstufe - quasi eine Brücke zwischen häuslicher Betreuung und Heimaufenthalt. "Die Tagespflege ist eine gute Einrichtung, um einen Umzug ins Pflegeheim hinauszuzögern", unterstreicht Melanie Nitschke. Viele der Kranken seien dort nämlich fehl am Platz. Sie würden unnötig aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen. Den Grund dafür sieht sie darin, dass Angehörige der Kranken zu wenig von der Möglichkeit der Tagespflege wüssten. "Sie denken oft nur in Richtung Heim."

Auch für Christin Smolinski gibt es in der teilstationären Pflege, wie es im Fachjargon heißt, noch Reserven. Die Aufklärung über Hilfsangebote lasse zu wünschen übrig. Zudem wünscht sie sich von einer Pflegereform eine neue Definition der Pflegestufen. "Das was jetzt zur Einstufung von Pflegebedürftigen geprüft wird, lässt sich nur schwer auf demente Menschen anwenden." Darüber werde in der Politik schon sehr lange gesprochen. Nur passiert sei eben bisher nichts.

Melanie Nitschke spricht davon, dass die Krankheit nicht aufzuhalten sei. "Doch man kann den Betroffenen das Leben lebenswert machen", sagt sie. Sie meint in diesem Augenblick wohl die Kranken selbst. Doch der Satz gilt auch für deren Angehörige.