Schauplatz des Parteitags SPD-Parteitag in Bonn: Schicksalsstadt der Sozialdemokratie

Bonn - Die Flaggenmasten stehen noch vor dem klotzigen Bau an der Ollenhauerstraße Nummer eins in Bonn. Es wehen sogar Fahnen daran. Aber es sind nicht mehr die orange-roten der Sozialdemokraten. Eine italienische Restaurantkette hat schon vor Jahren die Kantine in der einstigen Parteizentrale der SPD übernommen und die Fahnenmasten wohl gleich mit gepachtet. Wenn die Delegierten am Sonntag zum Parteitag der SPD nach Bonn kommen, einem von historischer Bedeutung, wie manche meinen, werden sie an vielen Stellen der Stadt auf solche Spuren ihrer Partei stoßen.
Die SPD, wie wir sie kennen, ist ein Kind der Bonner Republik, wie die anderen etablierten Parteien auch. Und so kann man es schlüssig finden, dass die Sozialdemokraten nun, da es um ihren weiteren Weg in der Berliner Republik, vielleicht sogar um ihr Überleben geht, an diesen Ort zurückkehren. Man kann es natürlich auch für eine Ironie der Geschichte halten. Oder es einfach nur praktisch finden, dass die vielen Delegierten aus Nordrhein-Westfalen nicht weit anreisen müssen, das spart der Partei ja auch Geld.
Der letzte große Triumph der SPD in Bundestag
Die symbolische Bedeutung des Tagungsortes ist jedenfalls kaum zu übersehen. Nichts macht das deutlicher als der Saal, in dem die 600 Delegierten sich versammeln werden, im World Conference Center am Rhein. So heißt das heute. Bis zum 1. Juli 1999 aber war das lichte Bauwerk des Architekten Günter Behnisch nichts anderes als der Plenarsaal des Deutschen Bundestages.
Und in eben diesem gläsernen Saal haben die Sozialdemokraten ihren letzten großen Triumph der vergangenen Jahrzehnte gefeiert, als Gerhard Schröder hier am 27. Oktober 1998 zum Bundeskanzler gewählt wurde. Es war ein Moment wie mancher in der Geschichte, dessen Bedeutung sich erst aus einiger Distanz einschätzen lässt. Ein Höhepunkt, ja, aber einer, mit dem auch schon der Niedergang einsetzen sollte, wie wir heute wissen.
Es ist ja das große Elend der Sozialdemokraten, dass sie mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders nicht recht umzugehen wissen. Erst hat er ihrem Selbstbewusstsein so gut getan und frischen Wind, Aufwind, in das nach 16 Jahren Helmut Kohl muffig gewordene Land gebracht. Viele aber sehen in seiner zweiten Amtszeit mit der Agenda 2010 den bis heute nicht geheilten Sündenfall, der die Sozialdemokratie um ihre Identität als Partei der kleinen Leute gebracht hat. Die Ursache all des Unheils, das dann während der 12 langen Merkel-Jahre über sie hineingebrochen ist. Aus dem sie noch immer einen Ausweg sucht, auch und gerade an diesem Sonntag.
Kneipe „Provinz“ war Keimzelle von rot-grün
Manche hatten schon früh eine Ahnung von diesem Weg. Nicht weit vom Bundestag entfernt, direkt gegenüber dem damals von Helmut Kohl beherrschten Kanzleramt, lag in den 80er Jahren die Kneipe „Provinz“. Sie war Treffpunkt junger ehrgeiziger Abgeordneter von SPD und Grünen um Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die Keimzelle der späteren rot-grünen Koalition. Auf Bierdeckeln stellten sie hier schon Kabinettslisten zusammen. Zu den Stammgästen zählte auch der SPD-Abgeordnete Claus Grobecker aus Bremen, ein linker Gewerkschafter, der den Debatten eher distanziert folgte.
Eines Abends nahm er auch einen Bierdeckel und malte einen Pfeil darauf, der von links unten nach rechts oben zeigte. Grobecker sagte: „Das wird euer Weg sein: links unten einsteigen, rechts oben ankommen.“ Das ist in einem Satz zusammengefasst bis heute die Analyse der Kanzlerschaft Gerhard Schröders durch linke Sozialdemokraten, und das ist im Kern auch die Kritik der Gegner einer weiteren großen Koalition, 30 Jahre nach dem Bierdeckelbefund aus der „Provinz“.
Godesberger Programm bekannte sich zur Marktwirtschaft
Zweifellos ist Bonn ein Schicksalsort der Sozialdemokraten. Das gilt vor allem seit der Verabschiedung des Godesberger Programms, das 1959 ein Sonderparteitag in der Stadthalle des Bonner Vorortes verabschiedet hat. Mit seinem Bekenntnis zur Marktwirtschaft und zur Bundeswehr eröffnete es erst den Weg der Nachkriegs-SPD zur Regierungsfähigkeit, die der neue Kanzlerkandidat Willy Brandt so bald wie möglich unter Beweis stellen wollte. Es dauerte dann noch bis 1966, und der Weg an die Macht führte über eine große Koalition.
Dieses erste Bündnis mit der CDU/CSU wird heute in der SPD oft vergessen, wenn über die Vor- und Nachteile der Zusammenarbeit als Juniorpartner mit der Union diskutiert wird. Es passt nicht in das Schema, wonach die SPD daraus immer als Verlierer hervorgehen werde.
Nach der Wahl 1969 nutzte Willy Brandt die Gunst einer knappen Mehrheit mit der FDP und bildete eine Regierung gegen die größte Fraktion, die CDU/CSU. Vielleicht ist es das, was der Nach-Schröder-Generation in der SPD bisher fehlt: Der Mut, aus den eingefahrenen Gleisen des Politikbetriebs auszubrechen, auch einmal etwas zu wagen.
Brandt wurde Ansprechpartner in der Bonner Republik
Dabei waren die Parteien in der ersten großen Koalition gar nicht so schlecht miteinander ausgekommen. Es gibt ein berühmtes Foto aus dem Sommer 1967, das die Minister in gelöster Stimmung um den Kabinettstisch versammelt unter Bäumen im Park der Villa Schaumburg zeigt. Willy Brandt zieht versonnen an einer Zigarette, vor Kanzler Kiesinger steht griffbereit ein Kistchen mit Zigarren.
„Die ganze Gesellschaft war unglaublich heiter gestimmt“, berichtete der Fotograf Jupp Darchinger. „Kiesinger und Brandt sprachen freundschaftlich miteinander, die Stimmung war ausgelassen, aber die Große Koalition unter Kiesinger war ja auch nie ein Verein von Traurigkeit. Da wurde so mancher Witz gerissen.“
Gleichzeitig geriet allerdings das Land immer mehr in Aufruhr. Der von einem Polizisten in Berlin erschossene Demonstrant Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke, Massenproteste an den Universitäten und gegen die von der Koalition geplanten Notstandsgesetze zeigten, dass es mit der bequemen Nachkriegsruhe in der Bonner Republik vorüber war.
Vor allem Willy Brandt vollbrachte Dank seiner antifaschistischen Vergangenheit und seiner Integrität das Wunder, weniger als Vertreter einer autoritär auftretenden Regierung, sondern immer mehr auch als glaubwürdiger Ansprechpartner einer politisch aufgewachten neuen Generation wahrgenommen zu werden. Das führte zu den Wahlsiegen 1969 und vor allem 1972 und zu einem unglaublichen Mitgliederzuwachs der SPD. Viele dieser „Willy“-Genossen sind bis heute in der SPD aktiv und oft eher auf dem linken Flügel zu finden.
Besondere Bedeutung für Andrea Nahles
Da kommt ursprünglich auch Andrea Nahles her, bevor sie nach und nach einen Richtungswandel zur Mitte vollzogen hat. Für die Fraktionsvorsitzende hat der Parteitagsort Bonn ebenfalls eine besondere Bedeutung. Im September 1995 ist sie hier, in der besagten Godesberger Stadthalle, zur Juso-Vorsitzenden gewählt worden.
Sie setzte sich in einer Kampfabstimmung auf dem Bundeskongress der Jungsozialisten im zweiten Wahlgang gegen einen gemäßigteren Kandidaten durch, auch Dank einer mitreißenden Rede in schwarzer Lederjacke und der Aufforderung, die SPD müsse endlich mal in die Puschen kommen. Hier in Bonn hat also ihr Aufstieg an die Spitze der Partei begonnen, der womöglich seinen Schlusspunkt noch nicht erreicht hat.
Auch darüber werden die Delegierten am Sonntag im alten Plenarsaal indirekt mitentscheiden. Kaum einer aus der SPD-Spitze hat in den vergangenen Tagen so für die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen geackert wie sie. Beschließt der Parteitag anders, wäre das auch ihre Niederlage.
Nirgendwo wird so international gedacht wie hier
Das Haus der Geschichte in Bonn hat einen „Weg der Demokratie“ ausgeschildert, der zu den wichtigen Orten der Bonner Republik führt. Station Nummer drei ist der Bundestag, die ehemalige SPD-Zentrale in der Ollenhauerstraße trägt die Nummer 17. Beide liegen kaum mehr als einen Spaziergang auseinander, und vielleicht schaut sich der eine oder die andere Delegierte ja noch einmal den Ort an, von dem aus die letzten großen Erfolge der SPD organisiert worden sind. Wo Gerhard Schröder am Wahlabend im September 1998 vor eine jubelnde Menge trat und rief: „Dies ist das Ende einer Epoche!“
Er hatte es dann sehr eilig, von der alten in die neue Hauptstadt überzusiedeln. Dieser Umzug, so schreibt er in seinen Erinnerungen, sei die entscheidende Zäsur dafür gewesen, „die neue, die Nachwendewelt in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen – als ob ein Schleier gelüftet wurde und den Blick freilegte. Wir schauten auf eine Welt, die mit der zwischen Tulpenfeld und Dahlmannstraße in der kleinen Stadt Bonn am Rhein gepflegten betulichen Abwendung vom globalen Geschehen nicht zu begreifen gewesen war.“ Heute, so muss man sagen, wird wohl nirgendwo in Deutschland in so internationalen Dimensionen gedacht wie hier, da aus dem alten Bonner Regierungsviertel einer der großen Standorte der Vereinten Nationen neben New York und Genf geworden ist.
Gerhard Schröder jedenfalls überließ Helmut Kohl den Kanzlerbungalow und zog mit ein paar Getreuen in ein Provisorium auf dem Venusberg – in jenem Haus, das Willy Brandt während seiner Jahre als Außenminister und Kanzler bewohnt hatte. Im Juli 1999 schloss er als SPD-Vorsitzender symbolisch das Erich-Ollenhauer-Haus ein letztes Mal ab.
Er hinterließ den Bonnern ein Plakat mit einem Fontane-Zitat und ein Lebkuchenherz. Das Zitat lautete: „Abschiedsworte müssen kurz sein wie Liebeserklärungen.“ Und auf dem Herz stand: „Tschö Bonn.“ So kurz und schmerzlos verlief der Abschied der Sozialdemokraten von Bonn. Jetzt sind sie wieder da. Für einen Tag.