SPD-Kanzlerkandidat? SPD-Kanzlerkandidat?: Martin Schulz - der Wahlkämpfer aus Würselen

Brüssel - Abgenommen hat er. Kräftig. Sein Anzug schlackert noch heftiger an den kurzen, stämmigen Beinen als früher. Aber sein politisches Gewicht hat Martin Schulz gehalten. Kommende Woche lässt sich das wieder beobachten in Brüssel.
Dann bittet Europa zum Gipfel. Und zwischen all den Staats- und Regierungschefs marschiert dann auch der 60-Jährige über den roten Teppich hinein ins Brüsseler Ratsgebäude. Dann darf er als Präsident des Europäischen Parlaments kurz sprechen. Verbrieft ist dieser Auftritt im Kreis der Großen nicht. Schulz hat sich sein Rederecht irgendwann genommen – wie manches im Leben.
Vom Buchhändler zum Kanzlerkandidaten
Schulz war immer zur Stelle. Und mitunter hat er auch ein bisschen gedrängelt. Ende der 80er-Jahre, als in seiner Heimatstadt Würselen bei Aachen der Posten des Bürgermeisters zu besetzen war. Der gelernte Buchhändler, gerade 31 Jahre alt, griff zu.
Dann 1994, als die nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten einen Bewerber suchten für das Europäische Parlament. Vor vier Jahren, als die Genossen einen Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten brauchten. Nun plötzlich wird der Mann mit der kahlen Schädeldecke und dem rheinischen Dialekt als Kanzlerkandidat der SPD gehandelt.
Die Indizien scheinen dünn. Etwas Geraune in einem Nachrichtenmagazin, eine Umfrage, die Schulz bessere Chancen als Parteichef Sigmar Gabriel einräumt, und ein paar Andeutungen von Büchsenspannern. Von ihm selbst: Kein Wort. Andererseits: Auch kein Dementi.
Stattdessen ein bemerkenswerter Terminplan: Am Sonntag eine leidenschaftliche „Rede zur Demokratie“ in Leipzig. Am Montag ein Interview auch zur Lage seiner Partei. An diesem Freitag nun wird im Berliner Regierungsviertel eine freundliche Biografie über ihn vorgestellt.
Selbstverständlich ist Schulz persönlich dabei. Schlagzeilen sind also garantiert, bevor der rechte Sozialdemokrat am Samstag beim Basiskongress der SPD-Linken in der Hauptstadt als Redner auftritt.
Der Sitz im Bundestag ist sicher
Alles Zufall? Wohl kaum. Im Januar läuft die Amtszeit von Schulz an der Spitze des Europäischen Parlaments aus. So haben es Christ- und Sozialdemokraten vor einiger Zeit vereinbart. Schulz drängt trotzdem auf eine weitere Periode. Aber ob er die konservativen Parlamentarier überzeugen kann, ist fraglich.
Es könnte sein, dass der ehrgeizige Muster-Europäer bald ohne Job dasteht. Er braucht also eine Anschlussverwendung. Nervös sei er in diesen Tagen, sagen Leute, die Schulz gut kennen. Dass er im Falle des Falles in die Bundespolitik wechseln möchte, ist kein Geheimnis. Ein sicherer Listenplatz für die Bundestagswahl im Herbst 2017 ist ihm sicher. Aber reicht ihm ein Sitz im Bundestag? Oder will er mehr? Die Kanzlerkandidatur? Könnte sich das mit Gabriels Wünschen decken? Um diese Fragen kreisen derzeit viele Gespräche bei den Genossen.
Bekenntnis zum Parteivorsitzenden
Rückblende. Ein Septembertag in Wolfsburg. Draußen protestieren ein paar Greenpeace-Aktivisten. Drinnen ist Gabriel und Schulz die Erleichterung anzusehen. Nach stundenlangen Beratungen hat der kleine Parteitag der SPD den Weg für das Freihandelsabkommen Ceta freigemacht. Die Sache war heikel, der Widerstand groß. „Eine richtungsweisende Entscheidung“, lobt Schulz nun.
Als er nach Gabriels Rolle gefragt wird, zieht er alle Register: „Wir haben einen Parteivorsitzenden erlebt, der den Parteitag gerockt hat. Er hat nicht nur seinen Führungsanspruch, sondern auch seine Führungsfähigkeit unter Beweis gestellt.“ Danach klopfen sich beide auf die Schultern. Szenen einer Männerfreundschaft.
Eigentlich schien damit klar: Gabriel hatte die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin – wenn auch mit Blessuren – überstanden. Er hatte den Ceta-Konflikt abgeräumt. Er besitzt als Parteichef das Zugriffsrecht – also würde er Kanzlerkandidat werden. Doch Gabriel besteht darauf, die Sache erst Anfang 2017 zu entscheiden. „Ich bin ganz entspannt“, weicht er Fragen nach der Kandidatur aus.
Das kann man von den sozialdemokratischen Funktionären nicht behaupten. Viele sind verärgert über die Sprunghaftigkeit des Vorsitzenden und frustriert, dass er aus dem Wegfall des Merkel-Nimbus keinen Honig saugen kann.
Hinter verschlossenen Türen haben führende Genossen im Sommer ein Alternativszenario durchgespielt: Wie wäre es, wenn der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz an Gabriels Stelle träte? Geradlinig, verlässlich und mit Strahlkraft in die Mitte besäße er Eigenschaften, die dem Parteichef fehlen. Andererseits: Scholz fehlen Charisma und Rampensau-Qualitäten. Und: Seine Truppen erwiesen sich als zu klein.
Also: Augen zu und durch mit Gabriel! So schien die Devise zu lauten, bis ausgerechnet ein Bekenntnis zu Gabriel die Debatte über die K-Frage lostrat. Es stammt vom NRW-Fraktionschef Norbert Römer, einem Vertrauten von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. „Ich halte Gabriel ohne Abstriche für geeignet, der nächste Kanzler zu werden“, sagte Römer.
Gabriels Zögern heizt Diskussionen an
Das provozierte die Gabriel-Gegner. Kurz darauf war von Unmut in der niedersächsischen Landesgruppe zu lesen. Das Zögern von Gabriel heizt die Spekulationen an. „Ich weiß nicht, wie er sich entscheidet“, gesteht ein Mitglied der engsten Parteiführung.
In dem Maße, in dem Unruhe und Unmut über Gabriel zunehmen, wächst die Begeisterung für Schulz. Zwar ist der Mann aus Würselen wie Gabriel pragmatisch. Doch anders als Gabriel gilt er als standfest. Dazu hat vor allem sein Zusammenstoß mit dem damaligen italienische Regierungschef Silvio Berlusconi beigetragen, der ihm im Sommer 2003 eine Rolle als Lagerchef in einem Film über NS-Konzentrationslager andiente.
Schulz kann nicht nur links und rechts. Der bodenständige Rheinländer kann auch unten und oben. Sein Großvater war Bergmann, der Vater Polizist. Das Leben des Sohns in Kürze: Gymnasium abgebrochen. Die erhoffte Karriere als Profifußballer scheitert an einer Verletzung.
Dann der Absturz in den Alkohol. Mit 20 Jahren war Schulz beinahe am Ende. Eine Buchhändlerlehre und sein Engagement in der Politik retteten ihn. Und brachten ihn bis an die Spitze des EU-Parlaments.
Eine wunderbare sozialdemokratische Aufsteigergeschichte. Daraus könnte man etwas machen im Wahlkampf. Und Wahlkampf kann Schulz. Das hat er 2014 gezeigt, als er als sozialdemokratischer Spitzenmann für Europa die Zuhörer begeisterte. Aber kann er auch deutsche Innenpolitik? Bei Steuern, Rente oder Bildung hat er sich bislang wenig profiliert. Und: Reicht die Verwaltungserfahrung als Kleinstadt-Bürgermeister zum Regieren eines 80-Millionen-Landes?
Das Modell Steinbrück
Wie sollte Schulz überhaupt Kanzlerkandidat werden? Manch einer spekuliert, dass Gabriel ihm den Job im nüchternen Bewusstsein der geringen eigenen Chancen übertragen könnte. Das wäre das Modell Steinbrück, das freilich bereits 2013 nicht funktionierte.
Viele in der SPD-Spitze bestehen daher darauf, dass der Kandidat auch den Parteivorsitz innehaben muss. Zudem könnte Gabriel die Kandidatur wohl kein zweites Mal im Hinterzimmer weiterreichen. „Das wird nicht ohne Debatte laufen“, sagt ein Präsidiumsmitglied der Berliner Zeitung: „Das können die zwei Jungs nicht einfach unter sich ausschießen.“
Doch man darf Schulz nie unterschätzen. „Der Martin ist so selbstbewusst, dass er sich nicht über den Schatten von Sigmar definiert“, sagt ein Spitzengenosse. Bislang gilt die Freundschaft zwischen Schulz und Gabriel als unverrückbar.
Doch auszuschließen ist nicht, dass die Politiker einmal Konkurrenten werden könnten. Jedenfalls macht Schulz derzeit kräftig Wahlkampf in eigener Sache. Die neue Biografie der Brüsseler Journalistin Margaretha Kopeinig mit schönen Bildern und Heldengeschichten könnte ihm dabei helfen. Ganz hinten im Buch findet sich auch ein freundliches Interview mit Gabriel. „Gerade in diesen turbulenten Zeiten ist deutlich, dass jemand wie Martin Schulz in Brüssel gebraucht wird“, erklärt der SPD-Chef da.
Es ist anerkennend gemeint. Aber auch deutlich: in Brüssel.