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Sensationsfund Sensationsfund: Bein zu Bein, Blut zu Blut

Von Christian Eger 06.06.2008, 17:49

Halle/MZ. - Egal, ob im Elendstal die Pferdeknochen bersten oder Fußketten klirren, die Mannschaft um den germanischen Gottkönig Wotan, Herr der Toten und der Stürme, weiß mit rettender Tat zu helfen. Vorausgesetzt, sie werden korrekt darum gebeten.

Wie letzteres zu geschehen hat, ist den Zaubersprüchen zu entnehmen, die am Anfang der überlieferten deutschen Literatur stehen. Obwohl die mutmaßlich im 9. oder 10. Jahrhundert aufgeschriebenen Zeilen nur von Gelehrten zu lesen und deuten sind, werden die Merseburger Sprachdenkmale nahezu kultisch verehrt. Die rockmusikalische Verwertungskette jedenfalls ist lang. Seit die Folk-Rock-Band "Ougenweide" 1974 den ersten Merseburger Zauberspruch vertonte, hat die Mittelalter-Szene ihr Vergnügen daran. Corvus Corax, In Extremo und XIV Dark Centuries - alle haben schon zu den vorchristlich-heidnischen Versen gegriffen.

Es war der in Flensburg geborene und in Berlin promovierte Rechtshistoriker und Mittelalterforscher Georg Waitz (1813-1886), der 1841 die Zaubersprüche in der Bibliothek des Merseburger Domkapitels entdeckte - offenbar bei Recherche-Zügen für die "Monumenta Germaniae Historica", die zentrale Sammlung deutscher Quellen aus dem Mittelalter. In einer mutmaßlich aus dem Kloster Fulda stammenden theologischen Sammelhandschrift aus der Mitte des zehnten Jahrhunderts fand Waitz die Sprüche - auf ein pergamentenes Vorsatzpapier notiert. Zur Begutachtung legte er den Fund dem Germanisten Jakob Grimm vor, einem der berühmten Märchen-Brüder. Dieser stellte die "Gedichte aus der Zeit des deutschen Heidentums" 1842 der Akademie in Berlin vor. Von diesem Auftritt an datiert die Berühmtheit der Zaubersprüche. "Alle sind an einem Codex vorbeigegangen, der ihnen, falls sie ihn näher zur Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren schien, jetzt aber, nach seinem ganzen Inhalt gewürdigt, ein Kleinod bilden wird, welchem die berühmtesten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben", schrieb Jakob Grimm 1842.

Denn es gibt zwar Zaubersprüche in Mengen, keine aber, die noch so nahezu unverbildet aus der vorchristlichen Epoche stammen. Der erste Spruch ist ein "Lösespruch", der die Befreiung von Gefangenen ermöglichen soll. Er endet: Entspring, Gefangener, den Fesseln, entschlüpfe den Feinden (im althochdeutschen Original: "insprinc haptbandum, inuar uigandun!" Der zweite Zauberspruch behandelt die Heilung eines lahmen Pferdes, eingebettet in eine göttliche Story: die Götter Baldur (auch Phol) und Wotan reiten durch den Wald ("holza"), wobei sich Baldurs Pferd den Fuß verrenkt. Wotan hat den rettenden Spruch parat: "Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien." Im Original: "bên zi bêna, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sôse gelimida sin!"

Die Merseburger Zaubersprüche sind die einzigen schriftlichen Zeugnisse, die germanische Götternamen überliefern. Und eine Vielzahl von Fragen: Wer sind die "idisi" im ersten Spruch? Walküreartige Frauen? Was bedeutet der Name "Phol" im zweiten Spruch? Wird hier ein Gott benannt oder ein Fohlen bezeichnet? Aufgrund ihrer hohen Suggestivität bei gleichzeitiger Unschärfe im Sachlichen haben die heidnischen Verse nicht nur bei Musikern Konjunktur. Unter den engagierten Gegenwartsdichtern sind die Entfesselungsverse motto-tauglich bis heute.