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Reportage aus Brüssel Reportage aus Brüssel: Europas Zentrum im Ausnahmezustand

Von Peter Riesbeck 22.03.2016, 11:40
Wallonen und Flandern vereint. Das sonst so gespaltene Belgien ist am Dienstag in seiner Trauer vereint.
Wallonen und Flandern vereint. Das sonst so gespaltene Belgien ist am Dienstag in seiner Trauer vereint. X00217

Brüssel - Das Café La Galia ist keine Schönheit. Es gibt Kaffee und Croissants, schlichte Stühle und auch mal ein schnelles Feierabendbier, hier in der Rue Lalainge. Die deutsche Ständige Vertretung ist nicht weit, die EU-Kommission auch nicht, und das Europaparlament liegt gleich um die Ecke.  Aber an diesem Dienstag ist vieles anders. Das Café liegt mitten im Zentrum der traurigen Ereignisse, der Fernseher läuft: „Angriff auf Brüssel“, heißt die Sondersendung.

Gegen acht Uhr am Morgen erschüttert ein Anschlag den Flughafen Zaventem vor den Toren der Stadt. Ein Selbstmordattentäter sprengt sich in die Luft, kurz darauf folgt eine zweite Detonation. Der Flughafen wird sofort geschlossen. Der Terror ist zurückgekehrt in die belgische Hauptstadt, nach dem Anschlag auf das Jüdische Museum am 24. Mai 2014.

Für seinen teuflischen Anschlag hat der Attentäter sich ganz bewusst  den sensibelsten Bereich des Airports ausgesucht: die Abflughalle. Hier müssen alle Passagiere durch – und man kommt ungehindert hinein. Panik bricht aus nach der Explosion, die einen Teil des Dachs zerstört, so dass Deckenteile zu Boden stürzen und Wartende verletzen.

Beißender Qualm, schreiende Menschen

Schnell verteilt sich der beißende Qualm. Verängstigte Reisende, die noch nicht eingecheckt haben, versuchen schreiend ins Freie zu gelangen. Andere, die gerade auf ihre Abfertigung an einem der Gates warten, werden von Sicherheitskräften auf das sofort für sämtliche Starts und Landungen gesperrte Rollfeld geführt.

Dass sie nicht an ihr Gepäck herankommen und auch Stunden danach noch nicht an ihre Autos, spielt keine Rolle, „wenn du gerade dem Tod entronnen bist“, berichtet später eine noch immer aufgelöst wirkende Augenzeugin im Radiosender BRF 2. Sie rühmt die Hilfsbereitschaft und Besonnenheit der Sicherheitskräfte, und aus ihrem Mund klingt  das Lob ganz anders als so manche Politikerfloskel an diesem „schwarzen Dienstag“.

Vor der Detonation sollen in der Halle Schüsse gefallen sein. Mehrere Passagiere erinnern sich, zuvor laute, unverständliche Rufe auf Arabisch gehört zu haben. Auf dem Boden des Gebäudes sollen Patronenhülsen gefunden worden sein.

Zweiter Anschlag mitten im Europaviertel

Um 9.11 Uhr erschüttert ein zweiter Anschlag die Metrostation Maelbeek, mitten im Berufsverkehr. Mitten im Europaviertel. Direkt unter der EU-Kommission, nur ein paar Minuten entfernt vom EU-Parlament. Und direkt unter dem Café La Galia.

Strahlend weiß leuchten die Kacheln der gerade renovierten Station. Und der Schriftzug in flämisch und französisch, Maalbeek und Maelbeek, wirkt hingekrakelt wie von Kinderhand. An diesem Tag aber gibt es andere Bilder. Sie zeigen einen demolierten Wagen der Metro. 

Auch im Café La Galia laufen diese Bilder im Fernsehen. Andrew Wilson schaut gebannt zu. Er hat um kurz vor neun Uhr im Hotel Thon auf einen Kollegen gewartet. „Plötzlich sind alle zu den Fenstern gelaufen“, sagt Wilson. Kurz darauf bekam er eine erste SMS. Terroranschlag in Brüssel.

Der Terror schlug direkt unter dem Hotel Thon in der Metrostation Maelbeek zu. Sofort wird der U-Bahn-Verkehr gestoppt, ebenso Trambahnen und Busse. Brüssel steht still. Und bald ist das Mobiltelefon wichtigste Anti-Terrorhelfer. Jeder greift zum Handy – auf der Suche nach den neuesten Nachrichten. Aber auch um die Lieben zu erreichen. So lange es noch geht.

Alle warten auf Nachrichten

Am Mittag wird der Telefonverkehr unterbrochen. Nur simsen geht noch. Und so werden Facebook und Twitter die wichtigsten Verständigungskanäle. Auch für Andrew Wilson. Der 28-Jährige ist vor zwei Tagen aus London gekommen. Nun sitzt er fest. Thalys und Eurostar haben vorübergehend ihren Dienst eingestellt. Wilson trägt Krawatte und Anzug. Er ist britischer Beamter. Sein Treffen wurde abgesagt. Wie alle Termine am Dienstag in Brüssel.

„Bleiben Sie, wo Sie sind“, mahnt Belgiens Premier Charles Michel. So ist auch Wilson nur eine Straßenecke weiter gezogen. In seinem Rücken marschiert Polizei auf, Straßen werden abgesperrt, nur Krankenwagen dürfen passieren. Polizisten mit Sturmhauben patrouillieren auf der Straße. Wilson nippt am Kaffee. Und er tippt auf dem Handy. Freunde fragen nach, wie es ihm gehe. So geht es vielen an diesem Tag in Brüssel.

Alle warten auf Nachrichten. Am Mittag erscheint der belgische Premier Charles Michel auf dem  Bildschirm im La Galia. Von einem „tragischen Moment“ spricht er in einer ersten Erklärung. „Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörige“, sagt Michel. Und: „Belgien steht vor einer schweren Prüfung. Nun gilt es Ruhe zu bewahren und Solidarität zu üben.“

Kurz meldet sich Frankreichs Präsident François Hollande. Er spricht von einem Anschlag „auf Brüssel, auf Europa und die freie Welt.“ Nach Madrid, London und Paris erreicht der Terror nun  auch das Zentrum Europas.

Lesen Sie auf der nächsten Seite den zweiten Teil unserer Reportage zu den erschreckenden Ereignissen in Brüssel.

Alle schauen nur auf den Bildschirm

Die Metroausgänge der Station Maelbeek führen hinaus auf die mächtige Rue de La Loi. Normalerweise rauschen die Staatschefs nach dem EU-Gipfel über die Straße ab ins Hotel. Vier breite Spuren führen in die Stadt. Morgens rollt hier der Berufsverkehr. Am Dienstag aber ist es anders. Die Straße liegt still in der Frühlingssonne. Polizisten haben die Metrostation weiträumig abgesperrt.

Nicht einmal die Anwohner dürfen die strengen Polizeikontrollen passieren. „Ich will doch nur nach Hause“, sagt Marie L., eine üppige Schwarze, während sie ihr Handy ans Ohr presst. Ihre kleine Tochter schläft friedlich im Kinderwagen. Mutter und Tochter wohnen hinter der Rue de la Loi.  Die junge Polizistin schüttelt den Kopf. „Tut mir leid. Hier darf niemand durch.“

Nur ab und an heulen Sirenen auf, Krankenwagen bringen weitere Verletzte in die Kliniken. Wer es dennoch schafft, hinter die Absperrung zu kommen, erreicht das Hotel Thon. Normalerweise verhandeln dort wichtige Leute auf wichtigen Konferenzen über wichtige Themen.  Jetzt ist das Hotel ein Krankenlager. Und so bleibt das Café La Galia an diesem Tag eine einsame Insel hinter Absperrbändern. Alle schauen nur auf den Bildschirm. Auf die Nachrichten.

Andrew Wilson kennt Brüssel. Er hat einige Zeit hier gelebt. Und der Brite kennt London. Wie ist das also, wenn der Terror eine Metropole erreicht? „Die Briten haben damals eine Grundhaltung gezeigt: Get on –  Weiter machen“, sagt Wilson.

Wird sich etwas ändern?

„Wir sind im Krieg“, sagt Frankreichs Premier Manuel Valls im Fernsehen im Café La Galia. Krieg? Andrew Wilson schaut kurz auf. Madrid, London, Paris. Und nun Brüssel? Wie ändert sich das Leben angesichts der Terrorgefahr. „Es geht weiter. Wachsamer. Etwa mit Blick auf U-Bahnen. Aber es geht weiter“, sagt Wilson. Und: „Brüssel ist eine lockere Stadt.“ Und wird sich das ändern? „Ich hoffe nicht. Wichtig ist jetzt: Haltung zu bewahren.“ 

Michel Gruslin hat wenig zu tun an diesem Mittag. Sein Pub „Kitty O’Shea’s“ liegt nahe der Metrostation Maelbeek, wo an diesem Morgen zehn Menschen gestorben sind. Normalerweise sei um diese Zeit in seinem Laden die Hölle los, sagt Gruslin. Heute sitzen nur drei Gäste an den Tresen, der Fernseher über der Tür ist eingeschaltet, ein Nachrichtensender zeigt Bilder vom Flughafen und von der U-Bahn-Station.

Vor der Tür des Pubs flattert das blau-weiße Absperrband der belgischen Polizei. Auf einem Rondell haben Fernsehteams ihre Kameras aufgebaut und filmen die Polizisten und einige wenige  bleiche Passanten, die sich vor den Absperrungen herumdrücken. Die Fahnen vor dem Europäischen Kongressgebäude hängen bereits auf halbmast, davor stehen einige eilig zurückgelassene Fahrräder. Die Anschläge überraschen den Pub-Besitzer nicht. „Nicht in Brüssel. Nicht nach Paris.“

Auch Petja Piilola ist nicht überrascht von dem Anschlag. Der Lobbyist wohnt unweit des Europa-Parlaments. Jetzt sitzt er mit einem Kollegen in der Sonne vor dem Café „The Meeting Point“ und trinkt  Kaffee. Arbeiten wird er heute nicht mehr. Er hat die Detonation in der U-Bahn-Station gehört und wenig später erfahren, was passiert ist. „Ich dachte sofort, dass dort um diese Zeit  Hunderte von Menschen unterwegs sein müssen und habe befürchtet, dass es noch viel mehr Tote sind.“

Autoschlangen schieben sich durch die Straßen, gegen Nachmittag geht in der Innenstadt gar nichts mehr. Die U-Bahnen sind geschlossen, man sieht weder Busse noch Bahnen. Der Verkehr wird immer wieder umgeleitet, viele Straßen sind seit Stunden gesperrt. Polizeiwagen und Motorradstaffeln brettern mit heulenden Sirenen an den Autos vorbei, ab und zu kreist ein Hubschrauber am frühlingsblauen Himmel, doch die Stimmung in der Stadt ist seltsam ruhig.

Eine Stadt unter Schock

Viele Geschäfte haben bereits kurz nach dem ersten Anschlag geschlossen oder gar nicht erst aufgemacht. Die wenigen, die im Zentrum geöffnet haben, sind leer. Die Verkäufer stehen vor den Geschäften, viele haben Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Ganz Brüssel, so scheint es, steht in den ersten Stunden nach den Anschlägen unter Schock. Viele Menschen stehen in kleinen Gruppen zusammen und diskutieren. Erst gegen Nachmittag beleben sich die Straßen allmählich, und je weiter man sich von der Innenstadt entfernt, umso mehr scheint sich das Leben zu normalisieren. Im Quartier des Squares, von internationalen Touristen wegen seiner berühmten Jugendstilbauten geschätzt, füllen sich die Cafés, die Lebensmittelläden haben wie jeden Tag ihre Obst- und Gemüsestände auf die Bürgersteige gestellt.  Frauen sitzen mit ihren Kindern in der Sonne. Das Leben geht weiter. Auch in Brüssel. Auch an einem solchen Tag.    

Unterdessen kreist eine Hubschrauber Staffel im Tiefflug über den gesperrten Montgomery-Tunnel. Ein Trupp Soldaten springt aus gepanzerten Militärfahrzeugen, ihre Maschinengewehre im Anschlag. „Comme  la guerre“, wie im Krieg, entfährt es dem Kioskbesitzer, der seine Bude für heute dicht macht.

Der oder die Täter hätten sich, sagt ein Taxifahrer, der mit den Polizisten an der Absperrung diskutiert, dann aber wie alle anderen  umkehren muss, für ihren Anschlag die „Primetime“ ausgesucht. Jene Zeit also, wenn sich jeden Tag viele EU-Mitarbeiter  zu ihren Einsatzorten in ganz Europa aufmachen. 66 Destinationen werden von Brüssel direkt angeflogen. Die Sicherheitsbehörden hatten zwar  mit einer „Antwort“ auf die Verhaftung des mutmaßlichen Paris-Attentäters Salah Abdeslam gerechnet, doch genaue Informationen hatten sie offenbar nicht.  

Brüssel ist im Ausnahmezustand, niemand weiß wie lange. Den ganzen Tag über jagen Polizeifahrzeuge mit Blaulicht und Martinshorn durch die Stadt, U-Bahnhöfe und Tunnel bleiben verrammelt. Am Nachmittag betreten vier Polizisten die Snackbar „Friterie Bodrum“ in der Avenue Georges-Henri. Zwei junge Männer betrachten auf ihren Smartphones Videos vom Doppelanschlag. Einer lächelt verstohlen. 

Im Netz gibt es nicht nur klammheimlich Sympathie für den Brüsseler Terror. Der Mann am Drehspieß hebt dagegen unwillkürlich die Arme, als stehe gleich eine Razzia bevor. Aber die Beamten wollen bloß einen Döner bestellen. Auf sie wartet eine lange Nacht.

Rauch steigt aus der Metro-Station Maalbeek auf.
Rauch steigt aus der Metro-Station Maalbeek auf.
Belga