Religiöser Fanatismus Religiöser Fanatismus: "Die 72 Jungfrauen im Paradies sind eine Chiffre"
Bei Sekten denkt man an Scientology oder Gurus, die junge Menschen in ihren Bann ziehen. Inzwischen beschäftigen sich Beratungsstellen wie die Sekten-Info Nordrhein-Westfalen aber nicht mehr nur mit Opfern von Psychogruppen. Ihre Expertise ist auch gefragt, wenn es um junge in Deutschland radikalisierte Islamisten geht.
Herr Grotepass, wie kommt ein in Deutschland aufgewachsener junger Mann dazu, seine Familie töten zu wollen, wenn sie sich gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat stellt?
Indem er bestimmte Werte als absolut setzt und seine Wahrheit über alles andere stellt. Das ist ein durchgängiges Merkmal von religiösen Fanatikern, dass sie ihrer Wahrheit alles andere unterordnen. In Gesprächen mit gemäßigten Muslimen höre ich öfter, dass die Salafisten als Sekte bezeichnet werden. Die streiten das natürlich entrüstet ab, da sie ja meinen, den einzig wahren Islam zu verkörpern. Das wiederum – dass man im Besitz der einzigen Wahrheit ist – hören wir auch von anderen konfliktträchtigen Weltanschauungsgemeinschaften bzw. sogenannten Sekten.
Christoph Grotepass, 1965 in Essen geboren, ist evangelischer Theologe mit Zusatzausbildungen in Sozialmanagement und in klientenzentrierter Gesprächsführung.
Referent bei der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V., einer staatlich finanzierten Beratungsstelle, ist Grotepass seit nunmehr sieben Jahren.
Pastor im Sonderdienst für Sekten und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche im Rheinland war er von 2002 bis 2007.
Das, was Menschen hier zu Dschihadisten werden lässt, kennen Sie also aus Ihrer Arbeit mit Sektenopfern?
Natürlich sind Vergleiche immer schwierig, aber die autoritären Strukturen, Schwarz-Weiß-Bilder, das Ausnutzen des jugendlichen Idealismus, die Abschottung von der angeblich bösen Außenwelt und die Feindbilder, das sind alles Merkmale, die uns sehr vertraut sind.
Was ist schief gelaufen, wenn Jugendliche davon träumen, sich dem Islamischen Staat anzuschließen?
Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Gerade junge Menschen sind idealistisch. Sie wollen sich für eine höhere Sache einsetzen. Bei den Islamisten erleben sie erstmals das Gefühl, wichtig zu sein. Ihr islamischer Hintergrund wird nicht wie sonst als problematisch erlebt, sondern wird geradezu verklärt. Sie bekommen die Botschaft, dass sie gebraucht werden. Dass sie Teil der Lösung sind, nicht des Problems.
Viele waren vor ihrer Radikalisierung nicht unbedingt sehr gläubig?
Genau, und umso leichter sind sie deshalb zu beeinflussen, gerade weil sie von ihrer eigenen Kultur und dem Islam so wenig wissen. Jemand, der in seiner Tradition und in seinem Glauben sicher ist, ist weniger anfällig für radikale Ansichten. Es wäre auch ein Fehler zu glauben, dass nur eine bestimmte Klientel anfällig für religiösen Extremismus ist. Das sind nicht nur Schwache. Wir sind alle mal schwach, aber wir haben vielleicht ein besseres Netz von Familie und Freunden, das uns auffängt. Wenn das aber fehlt und dann noch eine Krise kommt, wird es schwierig. Das, in Kombination mit einer schwach ausgeprägten Identität, macht anfällig.
Wieso schrecken die grausamen Berichte über die Verbrechen des IS die jungen Menschen nicht ab?
Zum einen misstrauen sie den westlichen Berichten, Verschwörungstheorien spielen eine große Rolle. Wir haben auch eine starke Mythenbildung, der Islam wird als moralisch höherwertige Instanz gesehen. Alles, was da nicht reinpasst, wird weggeblendet. Stattdessen wird auf die Dinge gezeigt, die im demokratischen Westen angeblich schief laufen, wie Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Prostitution. Im perfekten Islam gäbe es so etwas nicht. Die Gräueltaten sind dann die Übergangsschwierigkeiten auf dem Weg zu einer besseren Welt.
Trotzdem fällt es schwer zu glauben, dass ein intelligenter Mensch daran glaubt, dass im Paradies 72 Jungfrauen auf ihn warten, wenn er sich in die Luft gesprengt hat.
Der begreift möglicherweise, dass das eine Chiffre ist. Wir müssen verstehen, dass das System für jeden unterschiedliche Angebote bereithält. Für die einen sind es die Jungfrauen, für die anderen die Vorstellung, dass sie als benachteiligte Jugendliche plötzlich durch ihre Herkunft einen Vorteil haben sollen. Sie werden aufgewertet – und das fasziniert. Sie können sagen, dass der böse Westen sie so niedrig gehalten hat, wie er das mit dem gesamten Islam getan hat. Die eher Intellektuellen werden sich durch die Idee einer weltumspannenden Brüderlichkeit angezogen fühlen, der Umma. Emotional vernachlässige Jugendliche erfahren vielleicht erstmals menschliche Nähe.
Was kann man tun, wenn jemand kurz vor dem Absprung nach Syrien ist?
Dann ist es eigentlich schon zu spät. Wichtig ist, dass sehr frühzeitig ein soziales Netzwerk aktiviert wird. Das muss vom Moscheeverein bis zu den Eltern, Lehrern, Polizei und Sozialarbeitern reichen. Die müssen sich zusammen an einen Tisch setzen und darüber reden, was dem Jugendlichen fehlt, was man tun kann. Wenn einer schon auf den gepackten Koffern sitzt, kann ein Gespräch mit einem Gemäßigteren vielleicht noch eine Wende erzielen. Aber das ist schwierig.
Und was müsste politisch passieren?
Wir sind in der Vergangenheit viel zu wenig auf jugendliche Muslime eingegangen. Es fehlt so ziemlich an allem. Einerseits an Jugendarbeit, andererseits an einer islamischen Theologie, die in Deutschland weiterentwickelt wird und hier auch ihre Heimat findet; die weniger autoritär und archaisch ist. Leider werden liberale islamische Theologen in den eigenen Reihen immer noch sehr angefeindet. Aber das, was die alten Männer in den Moscheen machen, ist wenig attraktiv für die Jugendlichen.
Und was raten Sie Angehörigen, die fürchten, ihr Kind an IS zu verlieren?
Genau hinzuschauen. Spätestens wenn einer plötzlich anfängt, Gewalt zu rechtfertigen, sollte man alarmiert sein.
Wenden sich Eltern an Sie?
Ja, aber nicht massenhaft. Gerade Menschen mit Migrationshintergrund sind es nicht gewohnt, sich bei Problemen an staatliche oder andere Beratungsstellen zu wenden. Im Moment sind es vor allem Lehrer, die wissen wollen, wie sie das Thema im Unterricht behandeln sollen.
Das Gespräch führte Mira Gajevic.