Reem Sahwil und die Kanzlerin Reem Sahwil heute: Was wurde eigentlich aus "Merkels Mädchen"?

Halle (Saale) - Es sind am Ende nur zwei Minuten, die das Leben von Reem Sahwil ändern, die Bundeskanzlerin zum Nachdenken bringen und schließlich die Flüchtlingspolitik eines ganzes Landes umkrempeln. Ein paar Tränen, eine Kamera, ein Loch im Drehbuch, das Angela Merkel für einen Moment aussehen ließ wie den sprichwörtlichen nackten Kaiser.
Als Reem Sahwil - 2010 mit ihrer Familie aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet - die mächtigste Frau der Welt im Juli 2015 fragt, wie es mit ihrer von Abschiebung bedrohten Familie weitergehen soll, braucht Merkel vier Anläufe, ehe sie einen kompletten Satz beisammen hat. „Und wenn wir jetzt sagen: Ihr könnt alle aus Afrika kommen, das . . . das können wir nicht, auch nicht schaffen.“
Reem Sahwil hat danach geweint. Und Angela Merkel, die zu einem netten, bedeutungslosen Treffen mit Schülern in Reems Heimatstadt Rostock gekommen ist, zeigt linkisch Mitleid. Sie streichelt die Sechstklässlerin. Und sagt: „Oooch komm, du hast das doch prima gemacht!“
Sieben Wochen später öffnet Merkel die Grenzen
Das Medienecho fällt für die Kanzlerin verheerend aus. Ihre menschliche Geste, ihr „weil du’s ja auch schwer hast“, es zählt alles nichts. Sie kann Reem eben nicht sagen, dass sie bleiben darf, nur weil sie eine gute Schülerin ist und ihre Familie gut integriert. Merkel, so heißt es später, habe dann wegen der vernichtenden Schlagzeilen umgedacht.
Fünf Wochen nach ihrer Begegnung mit Reem lässt sie das Bundesamt für Migration die sogenannten Dublin-Regeln für Syrer aufheben. Und sieben Wochen später öffnet Angela Merkel Deutschlands Grenzen für Zehntausende, die in Ungarn festsitzen.
Nicht noch einmal will sich die Kanzlerin vorwerfen lassen, kalt auf menschliches Leid zu reagieren. Reem Sahwil versteht das. „Ich habe sie als jemanden kennengelernt, der sich im Notfall für andere Menschen einsetzt“, beschreibt sie heute. Dass ihre Begegnung Merkels Ansichten zu Flüchtlingen verändert habe, glaubt sie nicht. „Ich hätte es mir von ihr auch ohne dieses Ereignis vorstellen können.“
Reem Sahwil: Die Dublin-Regel macht Rostock zu ihrer neuen Heimat
Dieses „Ereignis“ ist immer noch präsent im Leben der Palästinenserin, deren Großeltern einst aus Haifa flüchten mussten, nachdem Ägypten, Syrien, Jordanien und der Irak mit dem Versuch gescheitert waren, den gerade gegründeten israelischen Staat von der Landkarte zu fegen.
Reem Sahwil wird ein halbes Jahrhundert später im Libanon geboren, unter so schwierigen Bedingungen, dass sie seit ihrer Geburt körperbehindert ist. Bis zu einer Operation in Deutschland, für die die gesamte Großfamilie jahrelang gespart hat, ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Ein Leben zweiter Klasse, ohne Perspektive, ohne Hoffnung, wie Reem in ihrem Buch „Ich habe einen Traum“ schreibt.
Ein Leben, das nur den Wunsch kennt, es neu beginnen zu dürfen. Mit ihrem Bruder und Mutter Manal ist Reem nach Deutschland geflohen. Vater Atif kam über die gefährlich Balkanroute nach. Ihr Ziel sei Schweden gewesen, beschreibt Reem Sahwil. Doch die Dublin-Regel macht Rostock zur neuen Heimat.
Video von ihrer Begegnung mit der Kanzlerin wurde millionenfach geklickt
Ein Schicksal wie das Tausender anderer. Zwar gilt der Libanon nicht als sicheres Herkunftsland, Asylverfahren enden aber dennoch meist mit einer Ablehnung. Für Reem Sahwil, die sich im Sommer vor zwei Jahren ebensogut in Rostock integriert hat wie Vater, Mutter und Geschwister, eine Horrorvorstellung. Sie ist die Beste ihrer Klasse in Deutsch. Sie hat viele neue Freundinnen. Und auf einmal soll sie wieder ins Lager Wavel, in dem die Sahwils seit vier Generationen leben?
Der schüchterne Teenager, der an jenem Juli-Nachmittag 2015 in der Schulturnhalle sitzt und auf Merkel wartet, hat keinen Plan. Spricht dann aber auf einmal doch. Von seinen Ängsten, von der Furcht der Familie, von der Ungewissheit und dem endlosen Warten auf einen Bescheid.
Momente, an die sich Reem bis heute genau erinnert, obwohl sie das millionenfach geklickte Video ihres Auftritts „nicht oft“ angeschaut hat. „Wenn man so eine Situation erlebt, hat man nicht wirklich das Bedürfnis, es nochmal sehen zu wollen“, sagt sie. Es ist ja alles noch da. „Automatisch abgespeichert.“
Reem wird durch zwei Minuten mit Merkel zum Medienstar
Kein Wunder, denn dieser 15. Juli 2015 „ist bis heute ein Tag, der viel für mich und meine Familie verändert hat“. Wenn nicht alles. Aus Reem Sahwil, Klassensprecherin an der Scheel-Schule und Hobby-Sängerin, wird durch zwei Minuten mit Merkel ein Medienstar.
Dank der sozialen Medien dringt das Ereignis bis zur Familie im Libanon. „Sie waren sehr überrascht, da sie mich als sehr schüchternes Mädchen kennen“, sagt Reem. Alle seien sehr stolz auf sie gewesen.
Sie selbst schaut heute gelassen zurück. Die Journalistentrauben vor der Tür, die schlechten Erfahrungen mit Reportern, die ausgedachte Geschichten schrieben . . . „Ich habe dadurch gelernt, mich auf mich selbst zu verlassen“, erzählt Reem, „und ich habe feststellen können, dass ich selbstbewusst sein kann, wenn ich das wirklich will.“
Mit ihrer Geschichte will sie anderen Hoffnung machen
Angst davor, sich mit ihrem Buch wieder mitten in die Diskussion um die richtige Flüchtlingspolitik zu werfen, hat Reem Sahwil nicht. „Ich habe selbst die Kontrolle darüber, inwieweit ich zu diesem Thema in die Öffentlichkeit treten will“, formuliert sie druckreif.
Wichtig sei ihr, dass „ich mit meiner Geschichte vielleicht anderen Hoffnung machen und meinen Eltern und allen Menschen, die mich unterstützen, danke sagen kann“.
Denn wenigstens ein wenig hat sich der Traum von einer Zukunft in der neuen Heimat an der Ostsee schon erfüllt. Reem und ihre Familie haben ein befristetes Aufenthaltsrecht gewährt bekommen. Reem selbst darf bis Oktober bleiben, auch der Rest der Familie hat Bleiberecht, wenn auch unterschiedlich langes.
„Merkels Mädchen“ ist heute eine selbstbewusste Frau
Noch sind nicht alle bürokratischen Hürden übersprungen. „Aber ich hoffe, dass wir alle bleiben können und ich hier auch mein Abi machen kann“, sagt die 17-Jährige, die nicht mehr „Merkels Mädchen“ ist, wie sie damals in Zeitungen genannt wurde, sondern eine selbstbewusste Frau, die genau weiß, wie viel Glück ihre Familie gehabt hat - gegen jede Wahrscheinlichkeit. „Mama arbeitet als Sozialarbeiterin in der Flüchtlingsunterkunft. Papa ist in einer Schulung für ein Callcenter, mein Bruder spielt Fußball.“
Deutschland hat sie verändert, aus dem Mädchen mit dem gesenkten Blick ist eine junge Frau geworden, die selbstbewusst in die Kamera lächelt. „Im Libanon hätte ich die Chance zu singen, gar nicht bekommen können, weil ich nie von selbst darauf gekommen wäre, einfach so vor anderen zu singen.“
„Meine Wurzeln sind in Palästina, in Deutschland lebe ich und sehe ich meine Zukunft“
Auf ihren Rollstuhl ist Reem Sahwil heute kaum noch angewiesen. Dasselbe Heimatgefühl wie für Haifa, den Sehnsuchtsort ihrer Großmutter, habe sie „für Deutschland und Rostock entwickelt“, sagt sie. „Meine Wurzeln sind in Palästina, in Deutschland lebe ich und sehe ich meine Zukunft.“
Der Traum, auf den der Titel ihres Buches anspielt, ist so keiner mehr. „Der Titel sagt aus, dass ich davon träume, hier zu leben, zu studieren, daran zu arbeiten, dass so viel wie möglich von dem in Erfüllung geht, wovon ich immer geträumt habe“, beschreibt Reem.
Selbst das Haus am Brunnen in Haifa, das ihre Großeltern 1948 verlassen mussten, scheint ihr mittlerweile nicht mehr so unerreichbar fern. „Nichts ist unmöglich, wenn man daran glaubt“, weiß Reem Sahwil.
›› Reem Sahwil: „Ich habe einen Traum. Als Flüchtlingsmädchen in Deutschland“, Heyne Verlag, 9,99 Euro, 240 Seiten
