1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Rassismus in Potsdam: Rassismus in Potsdam: Horrornacht an der Haltestelle

Rassismus in Potsdam Rassismus in Potsdam: Horrornacht an der Haltestelle

Von Peter Gärtner 06.02.2007, 20:57

Potsdam/MZ. - Trist und verlassen wirkt der Bahnhof Potsdam-Charlottenhof auch bei freundlichem Wetter. Ein paar Fahrgäste warten im Regen an der Straßenbahnhaltestelle vor der Station. Hier, direkt neben dem grauen Schaltkasten, wurde vor gut einem dreiviertel Jahr der Wissenschaftler Ermyas M. ins Koma geprügelt. In dem leicht verlotterten bürgerlichen Wohnviertel erinnert heute nichts mehr an den brutalen Überfall auf den Deutschen äthiopischer Abstammung, der kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft weltweit Besorgnis erregte und zwischenzeitlich den Generalbundesanwalt auf den Plan rief.

Doch der äußere Anschein trügt. Wen man auch an dem kameragesicherten Bahnhof anspricht, alles ist sofort präsent. Der "schlimmste Überfall seit der Wende", wie Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) die Tat einstuft, hatte nicht nur eine Debatte über No-Go-Areas in Ostdeutschland ausgelöst. Das Geschehen am Ostersonntag 2006 hatte auch die verschlafen wirkende brandenburgische Landeshauptstadt politisch aufgerüttelt.

Anti-Nazi-Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern, emotionsgeladene Fürbitt-Gottesdienste für den in Lebensgefahr schwebenden Familienvater Ermyas M. und eine enorme Spendenbereitschaft der Bürger - so etwas gab es zuvor noch nie in der Stadt, die für ihre Schlösser und Gärten weltberühmt ist. Für viele lag es nach Ostern 2006 auf der Hand, dass es sich um einen rassistischen Übergriff rechtsradikaler Schläger gehandelt haben muss.

Doch wenn heute vor dem Potsdamer Landgericht der Prozess gegen die beiden mutmaßlichen Täter beginnt, ist von rassistischen Motiven nur indirekt die Rede. Zwar wurde Ermyas M. unter anderem als "Scheißnigger" beschimpft und bei einem der Angeklagten wurde auch rechtsextreme Musik gefunden. Doch die Staatsanwaltschaft wirft dem 29-jährigen Björn L. lediglich gefährliche Körperverletzung und dem 31-jährigen Thomas M. unterlassene Hilfeleistung vor.

Handy weggestoßen

Laut Anklage fühlte sich der Wissenschaftler von den Männern in der Nacht bedrängt. Nach einem heftigen Streit soll Ermyas M. versucht haben, Björn L. zu treten. Der bullige Gelegenheitstürsteher soll den Deutsch-Äthiopier daraufhin mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen haben. Ermyas M. ging mit Schädelbasisbruch und einem gesplitterten Augenhöhlenknochen zu Boden. Thomas M. wird vorgehalten, das Handy des Opfers mit einem Fußtritt aus der Reichweite des Schwerverletzten befördert zu haben und dann einfach weggegangen zu sein. Erst das Gerichtsverfahren wird möglicherweise klären, wie weit Rassismus eine Ursache des Streits und der Gewalt war. Die beiden Angeklagten bestreiten nach wie vor, in der Tatnacht überhaupt am Bahnhof gewesen zu sein.

Ermyas M. steht nach monatelangen Krankenhausaufenthalten und Reha-Maßnahmen als Zeuge bereit. Der 38-jährige Agrartechniker will mit seiner Frau Steffi den Prozess auch als Nebenkläger verfolgen. Offenbar kann sich der Vater von drei Kindern inzwischen an Details des Tathergangs erinnern. "Nicht vollständig. Bruchstücke weiß ich", hatte er in einem Gespräch beim RTL-Jahresrückblick gegenüber Günther Jauch angegeben. "Es ist passiert, weil ein Farbiger dort gestanden hat", erklärte der Mann, der 1987 nach Deutschland kam, zur Ursache. Von dem bevorstehenden Prozess erhofft er sich "eine Lehre für andere Leute, die solche Vorhaben im Kopf haben". Jauch gehört zu den Prominenten in Potsdam, die sich nach dem Übergriff gegen Fremdenfeindlichkeit engagierten. An Griebnitzsee und Heiligem See wohnen Berühmtheiten wie Wolfgang Joop, Friede Springer, Volker Schlöndorff und Nadja Uhl.

Hohe Forscherdichte

Außer der großen Promidichte hat die 140 000 Einwohner zählende Stadt auch die höchste Forscherdichte der Republik. Neben drei Hochschulen haben 25 weitere Forschungsinstitute in Potsdam ihren Sitz, so auch das Leibniz-Intitut für Agrartechnik, an dem Ermyas M. in diesem Jahr seine Promotion beenden will. Der Wissenschaftler untersucht, wie man mit möglichst wenig Wasser und Energie Obst und Gemüse effektiv reinigen kann. Zumindest mit seinen Söhnen spielt der 38-Jährige inzwischen wieder Fußball. Die Seniorenmannschaft von Fortuna Babelsberg muss unterdessen noch auf ihn warten. "Denn Kopfball geht noch nicht", sagt der Forscher.

Neben knapp 50 000 Euro an Spenden, mit denen Ermyas M. Pflegekosten und Rechtsanwalt bezahlen, den deutsch-äthiopischen Jugendaustausch fördern und in der alten Heimat Brunnen bauen will, hat der Überfall auch andere nachhaltige Folgen. Hunderte Anhänger des SV Babelsberg 03, souveräner Tabellenführer der Fußball-Oberliga Nordost, boykottierten kürzlich in einer bislang einmaligen Aktion das Auswärtsspiel ihres Vereins beim früheren DDR-Serienmeister BFC Dynamo in Berlin. Dessen Anhänger sind für ihr rassistisches Gebrüll berüchtigt.