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Polen Polen: «Solidarnosc» ebnete Osteuropa den Weg in die Freiheit

Von Jacek Lepiarz 24.08.2010, 12:34
Der frühere polnische Präsident Lech Walesa blickt bei einer Veranstaltung zum 25. Jahrestag der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc (2005) lächelnd auf einen überdimensionelen Kugelschreiber. (FOTO: DPA)
Der frühere polnische Präsident Lech Walesa blickt bei einer Veranstaltung zum 25. Jahrestag der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc (2005) lächelnd auf einen überdimensionelen Kugelschreiber. (FOTO: DPA) PAP

Warschau/dpa. - Dieses Bild ging vor 30 Jahren um die Welt: LechWalesa, der schnauzbärtige Elektriker mit der Muttergottes ausTschenstochau am Revers, unterzeichnet mit einem überdimensionalen Kugelschreiber nach mehr als zwei Wochen Streik ein Abkommen mit der kommunistischen Staatsmacht. «Wir haben alles erreicht, was sich indieser Situation erreichen ließ», sagte der damals 37-Jährigeselbstbewusst nach der Einigung auf der Lenin-Werft in Danzig am 31.August 1980. Das entscheidende Zugeständnis, das er und seineKampfgefährten der Partei- und Staatsführung abgerungen hatten, wardas Recht auf eine eigene, unabhängige Arbeitervertretung.

In die Gewerkschaft «Solidarnosc» («Solidarität»), die kurz daraufgegründet wurde, traten innerhalb von wenigen Monaten zehn MillionenMenschen ein - ein Drittel der erwachsenen Bürger Polens. Erstmalswurde damit der Alleinvertretungsanspruch der herrschendenKommunisten infrage gestellt, ihr Machtmonopol gebrochen.

«Es gibt keine Sieger und keine Besiegten. Gewonnen haben beideSeiten», tröstete der Chefunterhändler der Regierungsseite,Vize-Premier Mieczyslaw Jagielski, seine Parteigenossen. Diese Wortesollten aber nur eine für die Machthaber bittere Wahrheit kaschieren:Der Zerfall des Sowjetimperiums hatte begonnen; neun Jahre späterfiel die Berliner Mauer, Mittel- und Osteuropa wurden frei.

Walesa selbst hätte beinahe den Streikbeginn verpasst. Bevor eram 14. August eine Straßenbahn bestieg, um in die Werft zu fahren,musste er sich zunächst um seine Familie kümmern. Seine Frau Danutawar nach der Geburt ihres sechsten Kindes, der Tochter Anna, nochsehr geschwächt, schrieb er in seiner Autobiografie. Erst amVormittag - Stunden später als verabredet - sprang der Arbeiterführerüber die Werksmauer und schloss sich seinen Kollegen an.

Es war höchste Zeit, denn der Streik, den eine Gruppe jungerArbeiter zu Beginn der Frühschicht vom Zaun gebrochen hatten, drohtezu scheitern. Der Direktor der Werft, Klemens Gniech, versuchte dieStreikenden einzuschüchtern. Einige lenkten ein und folgten seinemAufruf, an die Arbeit zurückzukehren. Doch nun übernahm der plötzlichaufgetauchte Walesa mit entschlossener Stimme das Kommando. «Hurra»,schallte es aus tausenden Kehlen. Vom Nachgeben war keine Rede mehr.

18 Tage lang erlebten die Streikenden ein Wechselbad der Gefühlezwischen Hoffen und Bangen - sie lebten in Angst vor einem Eingreifender Sicherheitskräfte. Vor zehn Jahren (1970) waren doch dieArbeiterproteste in Danzig und Gdynia blutig niedergeschlagen worden.Die anfänglichen Forderungen klangen bescheiden: Wiedereinstellungder entlassenen Kranführerin Anna Walentynowicz, eine Lohnerhöhungsowie die Errichtung eines Denkmals für die im Jahr 1970 erschossenenArbeiter.

Der Funke des Protestes sprang bald nach Beginn des Streiks vonder Danziger Werft auf die anderen Städte an der Ostseeküste über,verbreitete sich schließlich im ganzen Land. Ende August streiktenbereits eine Million Menschen in mehreren hundert Betrieben für Brotund Freiheit. Die Werft in Danzig wurde zur Machtzentralelandesweiter Proteste.

Mit ihrem Fachwissen und politischer Erfahrung unterstütztenkatholische und linke Intellektuelle, unter anderem TadeuszMazowiecki und Bronislaw Geremek, die Streikenden. Als ihremoralische Stütze galt der polnische Papst in Rom, Johannes Paul II.

Die sozialistischen «Bruderstaaten» reagierten auf die Ereignisseim Nachbarland mit Entsetzen. Das SED-Organ «Neues Deutschland» unddie sowjetische «Prawda» richteten scharfe Angriffe gegen die«antisozialistischen Elemente» und warnten vor der Konterrevolution.Die DDR-Führung machte die Grenze zu Polen aus Angst vor dempolnischen Rebellionsbazillus dicht.

Regimekritiker in Osteuropa blickten dagegen mit großer Hoffnungauf Danzig. Die «Solidarnosc»-Gründung sei für ihn und seine Freundeein «Schlüsselerlebnis» gewesen, sagt der ehemalige ostdeutscheDissident Wolfgang Templin. Er habe sofort gewusst, dass«Solidarnosc» den politischen Durchbruch bedeutete, erinnert sichTemplin.

Die Hoffnung auf den «Sozialismus mit menschlichem Antlitz», dienach dem gewonnenen Streik viele Polen teilten, endete abrupt imDezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts. Der polnischePartei- und Staatschef General Wojciech Jaruzelski schickte gegen dieArbeiter Soldaten und Panzer, um «Solidarnosc» zu zerschlagen.Tausende Gewerkschafter, darunter Walesa, wurden interniert, Dutzendestarben bei Zusammenstößen mit der Polizei.

Erst Ende der 1980er Jahren bot Jaruzelski der demokratischenOpposition, nicht zuletzt unter dem Druck der desolatenWirtschaftslage seines Landes, den Dialog an. Auch die Weltlageänderte sich: Im Kreml hatten nicht mehr die Falken das Sagen, esregierte der Reformer Michail Gorbatschow. Einmal mehr wurde Polenzum Vorreiter des Umbruchs:

Im Frühjahr 1989 einigten sich die Regimekritiker und dieKommunisten am Runden Tisch auf einen Kompromiss, der eineBeteiligung der «Solidarnosc» an der Macht ermöglichte. «Solidarnosc»habe «dem russischen Bär die Zähne gezogen» und den Grundstein fürdas Ende des Kalten Krieges gelegt, kommentierte Walesa.

Archivbild vom 30.08.1980 zeigt Arbeiter, die den Streikführer Lech Walesa auf ihren Schultern zur Lenin-Werft in Danzig tragen. Es folgte die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft «Solidarnosc». (FOTO: DPA)
Archivbild vom 30.08.1980 zeigt Arbeiter, die den Streikführer Lech Walesa auf ihren Schultern zur Lenin-Werft in Danzig tragen. Es folgte die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft «Solidarnosc». (FOTO: DPA)
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