Chronik eines Schicksals Organspende: Chronik eines Schicksals: Eine Organspende rettet Katrin Gentzmer 2006 das Leben
Halle (Saale) - Die soll ich mitnehmen? Ist das euer Ernst?“ Der Taxifahrer blickt ungläubig auf seinen Fahrgast. Es ist der 20. Dezember 2006, ein nasskalter Wintertag. Katrin Gentzmer steht vor dem Uniklinikum Halle, die Leberzirrhose hat sie aufgedunsen, hat ihre Haut und Augen gelb verfärbt. Die 41-Jährige wirkt dem Tod näher als dem Leben. „Ich konnte es ihm nicht verdenken“, sagt sie heute. „Ich war ein kleines, gelbes Fass. An seiner Stelle hätte ich mich auch nicht mitgenommen.“
Die heute 52-Jährige sitzt mit ihrer Tochter Lisa-Marie auf dem Sofa ihrer Wohnung in Lieskau bei Halle, als sie ihre Geschichte erzählt. Sie hat sich zurechtgemacht, das blonde Haar frisch frisiert, die Nägel perfekt manikürt. Doch das Erste, was an ihr auffällt, ist etwas anderes: ihr Humor. Wenn sie von sich als „kleines, gelbes Fass“ spricht. Oder ihr T-Shirt hochhebt, ihre Narbe aus drei zusammenlaufenden, gut 20 Zentimeter langen Linien zeigt: „Ich habe immer meinen Mercedes-Stern dabei.“
Chefarzt muss sich setzen: Diagnose: Steatohepatitits
Ihre Leidensgeschichte beginnt Ende 2004, ihre Tochter ist da gerade drei Jahre alt. Immer wieder geht es ihr schlecht, doch die Ärzte können nicht helfen. Bis 2005 eine Bauchspiegelung durchgeführt wird. Als der Chefarzt ihr den Befund überbringt, muss er sich setzen. Die Leberlappen sind an der Unterseite bereits vollständig zersetzt. Diagnose: Steatohepatitits, nicht-alkoholische Leberzirrhose. „Wie können Sie überhaupt noch essen oder trinken“, fragt er seine Patientin. „Klappt ganz gut“, antwortet die lapidar. Katrin Gentzmers Humor, bitter wie immer.
Bei einer Bauchspiegelung wird festgestellt, dass die Leberlappen der Frau teils bereits komplett zersetzt sind. Diagnose: nicht-alkoholische Leberzirrhose.
Die Hallenserin wird mit akutem Organversagen ins Uniklinikum Kröllwitz eingeliefert. Ohne Spenderorgan geben ihr die Ärzte noch fünf bis sieben Tage zu leben.
Eine erste Spenderleber kann nicht transplantiert werden. In letzter Minute erhält die 41-Jährige eine Spenderleber. Die Operation dauert neun Stunden, verläuft aber erfolgreich.
Die Patientin erholt sich schnell, der Körper stößt das fremde Organ nicht ab. Sie wird aus dem Krankenhaus entlassen, Reha und Kontrolluntersuchungen folgen.
Katrin Gentzmer gründet die Selbsthilfegruppe für Organtransplantierte. Sie will anderen vor oder nach einer Transplantation zur Seite stehen und Ansprechpartner sein.
Im November 2006 kommt es zu einem akuten Organversagen, sie wird ins Uniklinikum Halle eingeliefert. „Furchtbar. Ich war für die Ärzte und Schwestern dort nur ein Alki, der auf den sicheren Tod wartet. Nachts sind die Pfleger ins Zimmer gekommen und haben geschaut, ob ich noch atme. Ich kam mir vor wie der Holzmichl.“ Auch privat muss sie mit Vorurteilen kämpfen. „Leberzirrhose, klar, da denkt jeder gleich, man ist ein Trinker. Viele wissen nicht, dass es auch eine Form gibt, die nicht von Alkohol ausgelöst wird.“
Am 20. Dezember wird sie ins Transplantationszentrum Leipzig gebracht. Man hat eine Spenderleber gefunden, endlich. Doch das Schicksal schlägt erneut zu: Sie braucht die Leber dringender als je zuvor - aber es geht ihr zu schlecht, um zu operieren. Die Leber geht daher an den nächsten Patienten. Katrin Gentzmer kommt zurück auf die Intensivstation, zurück an Maschinen, an Schläuche. „Keine Ahnung, woran ich alles angeschlossen war.“
„Sie rief immer wieder: ,Das ist nicht meine Mama! Ist meine Mama schon tot?’“
Von der Hüfte abwärts verliert sie jegliches Gefühl, kann ihre Beine nicht bewegen, das Atmen fällt ihr schwer. Die Ärzte geben ihr noch fünf bis sieben Tage. Doch das Schlimmste: Ihre Tochter erkennt sie unter all den Apparaten nicht mehr. „Sie rief immer wieder: ,Das ist nicht meine Mama! Ist meine Mama schon tot?’“Aus Hygienegründen darf ihre Tochter sie nicht auf der Intensivstation besuchen. Auch an ihrem fünften Geburtstag nicht, am 22. Dezember. „Ich durfte nur mit ihr telefonieren, aber konnte kaum noch sprechen. Heiligabend wollte sie gar nicht mehr ans Telefon kommen. Sie sagte nur: ,Meine Mama ist schon tot.’“
Seit 1983 ist der erste Samstag im Juni Tag der Organspende. Neben bundesweiten kleinen Veranstaltungen findet seit 2008 auch immer eine zentrale Großveranstaltung statt - in diesem Jahr in Erfurt.
Offizielle Zahlen dazu, wie viele Personen einen Organspendeausweis ausgefüllt haben, gibt es nicht. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht davon aus, dass etwa jeder Dritte einen ausgefüllten Ausweis bei sich trägt.
Näheres zur Organspende gibt es unter: www.organspende-info.de,
zur Selbsthilfegruppe unter www.shg-ot.bplaced.net.
Als die Frau das erzählt, kommen ihr die Tränen, die Stimme bricht. Ihr Schutzwall aus trockenem Humor, er hält nicht alles aus.
Es ist der erste Weihnachtsfeiertag, seit gut einem Monat liegt die Patientin im Krankenhaus, tagein, tagaus „an dieses Scheißbett gefesselt“, wie sie sagt. Doch eines ist anders: Sie bekommt kein Frühstück. Als sie den Arzt fragt, was los ist, grinst der nur. „Nee“, ruft sie dem Arzt ungläubig entgegen. Der grinst weiter: „Doch.“ Operiert wird nur auf nüchternen Magen.
„Leberzirrhose, klar, da denkt jeder gleich, man ist ein Trinker“
Die Schwester hält ihr die Narkosemaske vors Gesicht, ihre Frage „Geht’s gut?“ ist das Letzte, was sie hört. Neun Stunden später erwacht die Patientin. Mit einer Narbe über den gesamten Bauch, mit 74 Klammern, mit einer Corsage, die verhindern soll, dass Rippen und Organe auseinander fallen. Vor allem aber: mit einer neuen Leber. Ihr Körper akzeptiert das fremde Organ, alles läuft bestens. Doch für ihre Tochter ist sie noch immer tot.
Die Fünfjährige kann nicht begreifen, was passiert ist, telefoniert mit ihrer Mutter wie mit einer Fremden. Nach Neujahr besucht sie ihre Mutter zum ersten Mal - nicht freiwillig. „Sie blieb auf dem Flur stehen und rief immer wieder: ,Nein, nein, ich geh da nicht rein.’ Ich habe das im Zimmer gehört. Es war kaum auszuhalten.“
Schließlich hält sie es tatsächlich nicht mehr aus: Ab der Hüfte noch immer gelähmt hievt sich die Frau in einen Rollstuhl, verlässt unerlaubt das Krankenzimmer. Doch ihre Tochter erkennt sie unter Schutzmaske und Venenkatheter noch immer nicht. „Da dachte ich mir, egal jetzt, ich nehme diese blöde Maske ab. Und sie hat mich erkannt.“
Kerzen auf dem Zweit-Geburtstagskuchen
Ihre Tochter besucht sie jetzt regelmäßig. Durch das lange Liegen haben aber die Muskeln abgebaut, sie kann daher anfangs nicht mehr gehen, muss täglich Übungen machen - ihre Tochter hilft ihr dabei. „Ich habe ihr mit einem Jahr das Laufen beigebracht, sie hat es mir mit fünf Jahren beigebracht“, sagt die 52-Jährige.
Am 25. Dezember 2017 wird sie elf Kerzen auf dem Kuchen, auf ihrem Zweit-Geburtstagskuchen, auspusten. Sie feiert ihren zweiten Geburtstag, ihren Transplantationsgeburtstag, wie sie sagt, jedes Jahr.
Plötzlich Rentnerin und „arm wie eine Kirchenmaus“
Dabei war es nicht immer einfach. Ihre Ehe ging in die Brüche, sie verlor ihre Stelle, kann nicht mehr arbeiten. „Ich hatte mich immer durchgekämpft. Plötzlich aber war ich Rentnerin und arm wie eine Kirchenmaus“, erzählt sie. „Ja, ich bin eine Kämpferin. Aber die Knüppel zwischen den Beinen machen einen irgendwann fertig.“ Um anderen in dieser Situation zu helfen, gründete sie vor zwei Jahren die Selbsthilfegruppe für Organtransplantierte. „Ich bin nach der OP in ein Loch gefallen“, erzählt sie. „Ich will andere dabei auffangen“, erklärt sie ihre Motivation.
Februar 2007, die Transplantation liegt gut zwei Monate zurück. Ein Taxi soll Katrin Gentzmer zu einer Routinekontrolle in die Leipziger Klinik bringen. Der Fahrer steigt aus, um ihr die Tür zu öffnen. Und sie traut ihren Augen kaum: Es ist derselbe Fahrer, der sie vor gut zwei Monaten an dem nasskalten Wintertag nicht in die Klinik fahren wollte. Auch der ist sichtlich erstaunt, die Frau zu sehen: „Sie leben ja noch?! Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen: Ich dachte damals, ich kriege Sie nicht nach Leipzig. Ich dachte, Sie sterben mir auf dem Weg dorthin weg.“
Als Katrin Gentzmer das zehn Jahre später auf ihrem Sofa erzählt, muss sie lachen. „Da war er nicht der Einzige. Schön, dass er unrecht hatte.“ (mz)