Der Sturz des Parteichefs Oktober 1989: Honeckers Entmachtung in der DDR und SED - und seine Nachfolger waren planlos
Es war vielleicht der letzte wirklich glückliche Tag im Leben des Mannes, der das Schicksal von fast 17 Millionen Menschen in der DDR länger und nachhaltiger bestimmte als irgendein anderer. An jenem 7. Oktober jedenfalls, es ist der 40. Jahrestag der Gründung der DDR oder, wie Honecker es nennt, der „Republikgeburtstag“, kehrt der erste Mann in Staat und Partei spätnachts von der großen Jubiläumsfeier in Berlin zurück ins heimische Haus 11 der Funktionärssiedlung nahe Bernau, die im DDR-Volksmund nur „Wandlitz“ heißt.
Ulrike Hainke, die Hausangestellte der Honeckers, ist noch da. Sie wartet auf den Chef, der an solchen Feiertagen manchmal noch einen kleinen Snack wünscht oder aber auch ein Schnäpschen ausgibt, Cognac am liebsten, weil er ein wenig plaudern mag.
Honeckers Mitarbeiterin spürt: DDR-Chef lebt in eigener Welt
An diesem Abend aber spürt Hainke, die ihren Job für die Abteilung V des Ministeriums für Staatssicherheit erledigt, ein wenig Spannung im Raum. Hainke ist eine treue Genossin, sie hat einen Lehrabschluss als Apothekenangestellte und einen als Buchhalterin und ist fast ein Vierteljahrhundert eines der Mädchen für alles im Politbürodorf Waldsiedlung.
Draußen aber, in Berlin, wo Hainke wohnt, bemerkt sie seit Monaten das Brodeln, die Unruhe und den wachsenden Hass auf das System. Und nun steht da auf einmal ihr Chef, sichtlich aufgeräumter Stimmung, und er erzählt von der schönen Party im Palast der Republik. „Es war so eine tolle Stimmung und die Leute haben gejubelt!“, habe sich Honecker gefreut, „Uli, das hättest du erleben sollen!“
Honecker schwämt von schöner feier - und draußen kriselt es
Ulrike Hainke lässt sich nichts anmerken. „Du armer Mann, habe ich gedacht“, gestand sie später im Gespräch mit der MZ, eigentlich immer noch fassungslos über das Maß an Wirklichkeitsverweigerung, das Erich Honecker, den sie nicht nur kennt, sondern respektiert, schätzt und bewundert, aufzubringen imstande ist. „Wenn Du wüsstest, wie es da draußen kriselt“, habe sie im Stillen geseufzt und an die Bilder gedacht, die das Westfernsehen zeigte: Demonstranten, Polizei, Staatssicherheit, Knüppel.
Honecker aber, im Herbst 1989 gerade halbwegs genesen von einer schweren Erkrankung, lebt in jenen letzten Tagen seiner 18 Jahre währenden Amtszeit in seiner eigenen Welt. Seit der Staats- und Parteichef im Sommer überraschend abgetaucht war, hat er nur einmal zu den sich zuspitzenden Ereignissen in der Republik Stellung genommen.
Honecker war bis zuletzt von seinem Kurs überzeugt
Mit dem Satz „den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“, gesprochen in Erfurt bei der Vorstellung des vermeintlich bahnbrechenden 32-bit-Speicherchip aus DDR-Herstellung, schien der 76-Jährige alle Demonstranten, Antragsteller und Botschaftsbesetzer verhöhnen zu wollen. Auch der - wie später bekannt wurde - von ihm selbst in die Parteizeitung „Neues Deutschland“ redigierte Satz, man solle Ausreisenden, die „sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt“ hätten, „keine Träne nachweinen“, spricht für Honeckers Entschlossenheit, keinerlei Kompromisse mit den immer lauter werdenden Kritikern der DDR-Verhältnisse einzugehen.
Stattdessen spielt Honecker über Bande, um seine Botschaften unters Volk zu bringen. Die Lage verlange, „dass die Prinzipien der Souveränität der Staaten, der Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten uneingeschränkt anerkannt werden“ , schreibt er in einem Exklusivbeitrag für die indische „Hindustan Times“, den die Weltpresse sofort begierig zitiert.
Für Honecker ist die Krise des DDR-Systems ausschließlich Ergebnis der Bemühungen des „Klassenfeindes“, die sozialistische Alternative zur Bundesrepublik auszuradieren. „Schon seit 1987“, hat er später im Gespräch mit dem Liedermacher Reinhold Andert beschrieben, „hatten viele sowjetische Autoren die Überwindung der deutschen Zweistaatlichkeit als politische Tagesaufgabe beschrieben.“
Für Honecker ist nur der Westen an der Krise der DDR schuld
Er, Honecker, sei jedoch nicht zu dem bereit gewesen, was er „die Opferung der DDR“ nannte. „Mein Sturz war das Ergebnis eines großangelegten Manövers, dessen Drahtzieher sich noch im Hintergrund halten“, glaubte er, ohne die mysteriösen Hintermänner zu benennen.
Auf der Bühne zeigen sich ihm bekannte Gestalten. Egon Krenz etwa, von Honecker einst als Nachfolger ausersehen, als offenkundiger Gorbatschow-Sympathisant aber später stillschweigend entthront. „Er war nicht der Mann, für den er sich hielt“, sagte Honecker später in krummer Grammatik über seinen in Ungnade gefallenen Erben, „ganz zu schweigen davon, für den ihn das Politbüro hielt“.
In einer Sondermaschine vom Typ TU 154 fällt am 13. Oktober 1989 die Vorentscheidung über den Machtwechsel. Krenz ist gemeinsam mit anderen führenden Genossen auf dem Weg nach Leipzig, um „über die Sicherung des friedlichen Verlaufs der Montagsdemo der kommenden Woche zu beraten“, wie er heute erinnert. In der Luft, so Krenz, habe er der Reihe nach alle Genossen mit seiner Einschätzung konfrontiert: „Mit Honecker wird es nicht weitergehen können.“ Fritz Streletz, Vize-Verteidigungsminister und SED-ZK-Mitglied, entgegnet: „Ich bin auf die DDR vereidigt, nicht auf Personen.“
Honecker soll zurücktreten - Signal der Führungsschwäche
Es dauert dennoch weitere quälende vier Tage, ehe sich ein erster Funktionär ein Herz fasst und Erich Honecker direkt auffordert, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Nicht Egon Krenz ist es, sondern der Potsdamer SED-Bezirkschef Günther Jahn, einst Krenz’ Vorgänger als FDJ-Vorsitzender. Es seien seit Monaten „Führungsschwächen an der Spitze“ offenbar geworden, sagt Jahn bei einer Beratung Honeckers mit den Bezirkssekretären, „deshalb fordere ich dich, Genosse Generalsekretär, auf, daraus auch die persönliche Konsequenz zu ziehen.“
Honecker tut zwar nichts dergleichen, Jahn aber bleibt ungeschoren. Ein Signal für die bis dahin zögerliche Gruppe um Krenz, die vor einem offenen Aufstand zurückschreckte, weil „Honecker nicht nur Generalsekretär war, sondern auch ein geachteter Widerstandskämpfer“, wie Wilfried Poßner, Chef der Pionierorganisation, später beschrieb.
Krenz und Co. wagen Aufstand gegen Honecker
Hinter den Kulissen läuft nun die Operation Machtwechsel an. Krenz hat sich mit dem als Reformer geltenden Dresdner Bezirkschef Hans Modrow verbündet, den Ministerpräsidenten Willi Stoph ins Boot geholt und auch von Stasi-Chef Erich Mielke grünes Licht bekommen. Politbüromitglied Harry Tisch ist beauftragt worden, Kremlchef Michail Gorbatschow am Rande eines Moskau-Besuchs über die geplante Absetzung Honeckers ins Bild zu setzen. Gorbatschow wünscht viel Glück. Nun erst wagen Krenz und seine Anhänger tatsächlich den Aufstand.
Aufzeichnungen über die entscheidende Politbüro-Sitzung, die DDR-Planungschef Gerhard Schürer anfertigte, zeigen, dass selbst Honeckers engste Vertraute im Augenblick der Wahrheit von ihrem Förderer und Jagdgenossen abrücken. Der Ablösungsantrag, von Stoph gestellt und von Honecker auf die Tagesordnung gesetzt, findet eine breite Mehrheit.
Kurt Hager, von der Bevölkerung als „Tapeten-Kutte“ verspottet, seit er die sowjetische Glasnost-Politik als irrelevant für die DDR bezeichnet hatte, rühmt die Verdienste Honeckers, ist aber für ein Ende seiner Amtszeit. SED-Wirtschaftschef Günther Mittag sagt, Honecker habe das Vertrauen der Partei verloren. Achim Böhme, der als Hardliner geltende Bezirkschef von Halle, urteilt, Honecker habe sein Lebenswerk selbst zerstört.
Auch Stasi-Chef Mielke unterstützt Honecker nicht mehr
Und Erich Mielke, der gefürchtete Stasi-Minister, erklärt dem Mann, in dessen Auftrag er über Jahre Menschen hat verfolgen und inhaftieren lassen, dass er nicht nach Erklärungen suchen, sondern Stophs Vorschlag akzeptieren solle. „Wir haben vieles mitgemacht“, sagt Mielke, aber jetzt gehe es um die Macht. „Und wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen.“
Erich Honecker ist angesichts der nahezu einhelligen Verurteilung zu ernsthafter Gegenwehr nicht mehr in der Lage. Das „schändliche Spiel“, sagt er später, „vollzog sich hinter meinem Rücken.“ Er sei, geschwächt von seiner Gallen-OP, plötzlich vor die Frage gestellt worden, zurückzutreten. „Man hatte sich schon auf Krenz als Nachfolger geeinigt, so dass keine Diskussion um Personen mehr möglich war.“
Am Ende stimmt Honecker seiner Entmachtung selbst zu
Honecker selbst hebt auch die Hand für seine Ablösung, schließlich soll die Einheitlichkeit der Kollektiventscheidung gewahrt bleiben. Als alles vorüber ist, geht der eben noch mächtigste Mann im Land hinüber in sein Zimmer und ruft seine Frau an. „Es ist passiert“, sagt Erich Honecker, „ich bin zurückgetreten.“ Er räumt sein Zimmer auf, verabschiedet sich von seinen Mitarbeitern und sagt seinem Nachfolger Egon Krenz Bescheid, dass der sich doch bitte um „eine kurze Presseerklärung für meinen Rücktritt“ (Honecker) kümmern solle.
Anschließend fährt der 77-Jährige zurück in die Waldsiedlung bei Bernau, in der er mit seiner Frau Margot seit fast drei Jahrzehnten lebt, immer noch ohne eigene Möbel, sondern mit genau den Stühlen, Schränken und Tischen, die 30 Jahre zuvor in das Haus gestellt worden waren. „Weißt du“, sagt Erich Honecker zu ihr, „ich bin regelrecht erleichtert.“