Nach dem Mauerfall Nach dem Mauerfall: Kohls Zehn-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung
Berlin - Den 28. November 1989 verbucht Horst Teltschik wie einen Sieg. War sein Chef, der Bundeskanzler, am Tag nach dem Mauerfall in West-Berlin noch ausgepfiffen worden, hatte es anfangs so ausgesehen, als laufe Helmut Kohl den Deutungen von SPD-Politikern wie Walter Momper und Willy Brandt hinterher, hatte er nun das Ruder herumgerissen.
Bedenken von FDP und SPD
Den Tag nach Kohls Auftritt vom 28. November beschreibt Teltschik in seinem Buch „329 Tage“ so: „Heute morgen berichtet die gesamte deutsche und internationale Presse über die Zehn-Punkte-Rede Helmut Kohls. Das Echo ist überwältigend. Wir haben unser Ziel erreicht. Der Bundeskanzler hat die Meinungsführerschaft in der deutschen Frage übernommen.“
Der Zehn-Punkte-Plan. Laut Teltschik hatten sie im Kanzleramt zwei Wochen nach dem Mauerfall Bedenken, der Koalitionspartner FDP oder die oppositionelle SPD könnten vor Kohl ein Konzept zur deutschen Wiedervereinigung erarbeiten. Daher sei Eile geboten gewesen. Der Plan sollte geheim gehalten werden, damit niemand dem Bundeskanzler noch zuvorkomme konnte. Zur Veröffentlichung wird der Tag der Haushaltsdebatte im Bundestag in Bonn gewählt. Der 28. November 1989.
Um aber sicherzustellen, dass die Medien gewappnet sind, gibt es am Vorabend für ausgewählte Journalisten eine vertrauliche Unterrichtung im Kanzleramt. Einiges ist schon aus dem CDU-Präsidium am Vormittag durchgesickert, wo Kohl die Idee eines Stufenplans zur deutschen Einheit streifte. „Diese vertraulichen Partei- und Fraktionsgremien sind so löchrig wie ein Schweizer Käse“, kommentiert Teltschik in seinem Buch, das er im August 1991 veröffentlicht. Für die allermeisten kommt Kohls Rede aber völlig überraschend.
Am Rednerpult im Bundestag holt Kohl aus: „Erstens: (...) Die Bundesregierung ist zu sofortiger, konkreter Hilfe dort bereit, wo diese Hilfe jetzt benötigt wird. (...) Drittens: Ich habe angeboten, unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird. (...) Viertens: (...) Diese Zusammenarbeit wird zunehmend auch gemeinsame Institutionen erfordern (...).“
Warum Punkt fünf die größte Tragweite hatte, lesen Sie auf Seite 2.
Die größte Tragweite hat dann Punkt fünf: „Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden deutschen Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, danach eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung, zu schaffen. (...). „Sechstens: (...) Die künftige Architektur Deutschlands muss sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas (...). Siebtens (...) Den Prozess der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir als europäisches Anliegen (...). Zehntens:(...) Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.“
Beifall. Großer Beifall, auch von der SPD. Ihr Partei- und Fraktionschef Hans-Jochen Vogel klatscht bedächtig. Angesichts der „nationalen Herausforderung“, wie er sagt, unterstützt er Kohl und warnt vor Störungen durch Parteipolitik. Kohl hat die richtige Rede gehalten und das Fenster zur Einheit weit aufgestoßen. Nur die Grünen halten das Ziel der Wiedervereinigung für falsch.
Reaktionen im Ausland
Die Reaktionen im Ausland: US-Präsident George Bush steht der Wiedervereinigung offen gegenüber. Sein Außenminister James Baker erklärt: „Einheit kann vieles bedeuten: einen einzigen Bundesstaat etwa, eine Konföderation oder sonst etwas.“
Frankreich ist zunächst verärgert, vor allem darüber, dass Kohl die Regierung in Paris vorher nicht informiert hatte. Der Elysée-Palast signalisiert aber, man könne damit leben.
Entscheidend ist aber Moskaus Haltung. Bei aller Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) von Staatschef Michail Gorbatschow gibt sich der Kreml zunächst skeptisch: Außenminister Eduard Schewardnadse wirft Kohl Einmischung in die Belange der DDR-Bürger vor, die ihren Staat selbst verändern wollten.
Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher wettert, die Wiedervereinigung stehe nicht auf der Agenda. Das meint auch Egon Krenz, Ende November noch DDR-Staatsratsvorsitzender. Der damalige SPD-Politiker und spätere Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine nennt Kohls Zehn-Punkte-Plan gar einen „großen diplomatischen Fehlschlag“.
Das hatten Thatcher, Krenz und Lafontaine gemein: Sie lagen falsch. Die deutsche Einheit kam schneller als sie - und wohl viele Millionen andere - damals dachten. Im September 1990 stimmten DDR-Volkskammer und Bundestag dem Einigungsvertrag zu. Am 3. Oktober trat die DDR der Bundesrepublik bei. Nur 329 Tage nach dem Mauerfall. (dpa)