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MZ-Rentenserie - Teil 6 MZ-Rentenserie - Teil 6: Plötzlich wieder DDR-Bürger

Von BÄRBEL BÖTTCHER 27.05.2011, 21:41

HERBSTEIN/MZ. - Es ist Montag, der 24. November 1986. Gundhardt Lässig weiß schon auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle in Saalfeld: Heute wird etwas passieren. Der 39-Jährige ist Betriebsleiter der Betriebsteile Saalfeld, Pößneck und Rudolstadt des VEB Kohlehandel Gera. Noch. Denn der Ingenieur hat sich nicht getäuscht. Im Büro erscheinen drei Herren. Sie nehmen ihn mit zur Stasi-Kreisdienststelle. Lässig wird verhört. Der Grund: Am Freitag zuvor haben er und seine Frau einen Ausreiseantrag für sich und die zwei Kinder in den Briefkasten geworfen.

"Der Entschluss ist lange gereift. Immer wieder haben wir überlegt: Tun wir das Richtige?", erzählt Margitta Lässig, die aus Wallendorf bei Merseburg stammt. "Wir sind nicht wegen ein paar Bananen gegangen." Es sei die Lügerei gewesen, die das Ehepaar nicht mehr ertragen konnte, die Gleichgültigkeit, die ständige Schönfärberei und Vertuschung wahrer Schwierigkeiten in den Betrieben. Hinzugekommen sei das ständige Drängen, doch in die SED einzutreten. Und der Druck auf den Sohn, mit dem in der Schule ohne Wissen der Eltern Gespräche geführt wurden, weil er zur Konfirmation gegangen war. Der nur zur Erweiterten Oberschule (EOS) gedurft hätte, wenn er sich für drei Jahre zur Volksarmee verpflichtet hätte. Die Lässigs sehen in der DDR keine Perspektive mehr für sich. Sie wollen raus.

Gundhardt Lässig wird zunächst beurlaubt, Anfang Dezember erfolgt die fristgemäße Kündigung. Der Mann, dem am 1. Mai 1986 noch eine Aktivistennadel angesteckt wurde, erhält es schwarz auf weiß: Er ist für die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeitsaufgabe nicht geeignet. Seine Frau, bislang in der Exportabteilung der Saalfelder Schokoladenfabrik tätig, wird in die Abteilung Technik versetzt. Westkontakte sind nun tabu. Margitta Lässig hat zwar Lohneinbußen, kann aber immerhin im Betrieb bleiben.

Nach einigem Hin und Her findet auch Gundhardt Lässig wieder eine Anstellung - als Hilfsarbeiter im Saalfelder Diabetiker-Sanatorium Bergfried. Im Sommer mäht er im Park Rasen - wobei er sich Bronchialasthma holt. Im Winter putzt er in der Küche Gemüse.

Das sind aber nicht die einzigen Änderungen im Leben der Lässigs. Sie merken, dass ihr Haus beobachtet wird, im Telefon knackt es häufig verdächtig, viele Briefe sind geöffnet. Gundhardt Lässig wird von der Stasi regelmäßig vorgeladen - "zwecks Klärung eines Sachverhaltes". 48 Stunden darf er dann festgehalten werden. In dieser Zeit muss er Erniedrigungen und Belehrungen über sich ergehen lassen. Den Behörden ist unter anderem seine Teilnahme an Friedensgebeten in der Saalfelder Johanneskirche ein Dorn im Auge. Der Sohn darf nicht zur EOS. Er findet auch keine Lehrstelle, arbeitet schließlich bei der evangelischen Kirche.

Drei Jahre lang geht das so. Bis zum 25. Mai 1989. An diesem Tag darf die Familie ausreisen. Lässigs erhalten kurz vorher ihre Ausbürgerungsurkunde. Sie unterschreiben, dass sie keinerlei Ansprüche mehr an die DDR haben - auch keine Rentenansprüche an die Sozialversicherung.

Die vier Lässigs landen in der Bundesaufnahmestelle Gießen. Acht Tage dauert die Einbürgerung. Dabei erhalten sie einen "Wegweiser für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR", herausgegeben vom Bundesminister des Innern. Unter Punkt 17 heißt es darin: "Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR oder Berlin (Ost) werden in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich so behandelt, als ob sie ihr gesamtes Arbeitsleben in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten."

Später wird ihnen das auch schriftlich durch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (heute Rentenversicherung Bund) mitgeteilt. Für sie gilt das so genannte Fremdrentengesetz. Dieses regelt die Renten und Rentenanwartschaften von Deutschen, die "vor ihrem gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Kriegsfolgen außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes gewohnt und gearbeitet haben".

Um das Alter brauchen sich die Lässigs also keine Sorgen zu machen. "Rente war für mich kein Thema mehr", sagt der Familienvater. Das Ehepaar kümmert sich um Naheliegenderes. Es geht auf Arbeitssuche. Die beiden Ingenieure für Papierverarbeitung und Verpackungstechnik werden bald fündig. Sie fassen in Hessen Fuß. Zunächst in Schwalmstadt, später in Herbstein in der Nähe von Fulda. Auch die Kinder werden bald heimisch und gehen ihren Weg. "Wir haben hier 21 herrliche Jahre verlebt", sagt Gundhardt Lässig, der seiner Firma nach dem Mauerfall den Weg in den Osten ebnet. Es sei eine harte aber auch erfolgreiche Zeit gewesen. "Ich habe gut verdient, war keinen Tag arbeitslos, keinen Tag in Kurzarbeit." Seit 2010 bezieht er Rente als Schwerbehinderter. Seine Frau geht zum Jahresende 2011 in den vorzeitigen Ruhestand.

Doch schon bevor die erste Rente auf das Konto überwiesen wird, holt die Lässigs das Thema ein. 1999 / 2000 werden sie im Internet auf Berichte anderer ehemaliger DDR-Flüchtlinge aufmerksam. Darin ist die Rede davon, dass die erwartete Rente bei weitem nicht dem entspricht, was bei der Einbürgerung zugesagt worden war. Sie gehen der Sache nach, holen Auskunft bei der Rentenversicherung ein. Und siehe da: Für die Berechnung der DDR-Zeiten, wird nicht - wie versprochen - das Fremdrentengesetz zugrunde gelegt, sondern das Rentenüberleitungsgesetz. Letzteres wurde geschaffen, um die Rentenbelange der DDR-Bürger nach der Wiedervereinigung zu regeln. Gundhardt Lässig ist fassungslos. Nicht nur, dass ihm monatlich etwa 500 Euro verloren gehen. "Das erschreckende ist, alle Flüchtlinge werden wieder zu DDR-Bürgern gemacht", sagt er.

Hinzu kommt, dass die Betroffenen über die offensichtliche Gesetzesänderung niemals informiert worden sind. "Alle Flüchtlinge hätten doch einen Aufhebungsbescheid kriegen müssen, aus dem hervorgeht, dass das Fremdrentengesetz (FRG) nicht mehr für sie gilt", unterstreicht er. Bemerkt wird das erst, als nach 1996 die ersten Betroffenen in Rente gehen. Für die vor 1937 Geborenen gilt ein Vertrauensschutz und somit weiterhin das FRG.

Es kommt zu tausenden Klageverfahren, Petitionen an den Bundestag werden geschrieben. Auch Gundhardt Lässig zieht vor das Sozialgericht, dann vor das Landesgericht. Ohne Erfolg. Immerhin wird ihm als ersten Kläger eine Berufungsmöglichkeit vor dem Bundessozialgericht zugestanden. Das Verfahren läuft.

"In der DDR", so sagt der heute 64-Jährige, "wurden wir als staatsfeindliche Subjekte gebrandmarkt. Jetzt werden wir wieder diskriminiert." Das Wort Rechtsbeugung fällt. Er sei zum Zeitpunkt des Mauerfalls Bürger der Bundesrepublik gewesen. "Und wo bitte steht geschrieben, dass Bundesbürger unter das Rentenüberleitungsgesetz fallen" fragt er. Erst nach dem 18. Mai 1990 habe es keine Einbürgerungsverfahren mehr gegeben.

Die Betroffenen, von etwa 200 000 ist die Rede, merken, dass sie als Einzelpersonen nichts bewirken können. Es entsteht die Idee, sich zu treffen. Das geschieht am 23. Juli 2008 - am "Point Alpha" im thüringischen Geisa. Hier an der ehemaligen innerdeutschen Grenze war früher ein amerikanischer Beobachtungsstützpunkt. Heute erinnert eine Gedenkstätte an die deutsche Teilung.

Das Treffen einer Gruppe ehemaliger Flüchtlinge ist die Geburtsstunde der Interessengemeinschaft Ehemaliger DDR-Flüchtlinge e.V. Gundhardt Lässig arbeitet im Vorstand mit. Er hofft, dass die Politik die Notbremse zieht - und erinnert an einen Satz der Bundeskanzlerin: "Wenn ein Gesetz falsch wirkt, muss es geändert werden."