Interview zu Sami A. Michael Bertrams.: "Es gab im Ministerium ein problematisches Schweigen"

Michael Bertrams, ehemaliger Chef des Verfassungsgerichtshofs NRW über das Chaos bei der Abschiebung von Sami A.
Herr Bertrams, die Landesregierung beharrt darauf, bei der Abschiebung des Gefährders Sami A. sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Wie sehen Sie den Fall?
Michael Bertrams: Richtig ist, dass zwei Kammern über verschiedene Fragen zu entscheiden hatten. Einmal ging es um den Widerruf eines Abschiebeverbots durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Im Zuge des „Arabischen Frühlings“ war das Bamf – abweichend von seiner früheren Haltung – zu der Auffassung gelangt, die gewandelten politischen Verhältnisse erlaubten es, Tunesier in ihren Herkunftsstaat abzuschieben. Dagegen hatte Sami A. geklagt. Parallel dazu hatte die Bochumer Ausländerbehörde eine Abschiebung verfügt. Auch dagegen zog Sami A. vor Gericht. Die für das Bamf-Verfahren zuständige Kammer war nun mit dem Bamf übereingekommen, dass dieses das Gericht über eine etwaige Abschiebung rechtzeitig vorher informiert.
Eine Art „Gentlemen’s agreement“ zwischen Justiz und Behörden?
So kann man das nennen, ja. In Eilverfahren ist das Standard. Der Fachausdruck lautet „Stillhaltezusage“. Hätte das Bamf sich geweigert, das Gericht auf dem Laufenden zu halten, hätte es einen „Hinhalte-“ oder „Hängebeschluss“ erlassen. Damit wird den Behörden untersagt, vor einer gerichtlichen Entscheidung vollendete Tatsachen zu schaffen. In der Regel braucht es das aber nicht, weil beide Seiten offen und vertrauensvoll miteinander kommunizieren.
Im konkreten Fall war das anders?
Es gab im zuständigen Flüchtlingsministerium in Düsseldorf ein problematisches Schweigen. Als das Bamf vom Ministerium wissen wollte, was es denn mit der für den 12. Juli anberaumten Abschiebung von Sami A. in einem Linienflug auf sich habe, lautete die Mitteilung: Der Termin ist storniert. Von dem zu diesem Zeitpunkt bereits georderten Charterflug einen Tag später war aber keine Rede. Ihn zu erwähnen, wäre aber zwingend erforderlich gewesen, um den Informationsstand des Bamf, das sich gegenüber dem Verwaltungsgericht ja zur Auskunft über den jeweiligen Sachstand verpflichtet hatte, nicht in eine komplette Schieflage zu bringen. Für jeden erkennbar hatte die Nachfrage beim Ministerium einzig und allein den Grund, etwas über eine geplante Abschiebung – egal zu welchem Termin – in Erfahrung zu bringen.
„Die fragliche Situation ist sicher eine besondere“
Also war das Vorgehen des Ministeriums ein „No go“?
Eine solche Verschweigens- oder sagen wir neutraler Informationslücke ist nicht hinnehmbar. Nur dadurch war es rechtlich überhaupt möglich, Sami A. ins Flugzeug zu setzen. Hätte das Gericht vom Charterflug am 13. Juli gewusst, wäre es fraglos im Eilverfahren noch am 12. Juli spät abends eingeschritten. Stellen Sie sich einmal die Situation vor: Wenn Sie eine Reise von Dienstag auf Mittwoch verschieben und gefragt werden, ob Sie denn nun am Dienstag fahren – sagen Sie dann auch bloß „nein“ und lassen den neuen Reisetermin unerwähnt? Ich hielte das für – gelinde formuliert – seltsam, um nicht zu sagen, wahrhaftigkeitswidrig.
Der erwähnte Verfahrenswirrwarr ist schon eine Erschwernis, oder?
Die fragliche Konstellation mit den parallelen Verfahren ist sicher eine besondere.
Wäre sie vermeidbar gewesen?
Das ist schwer zu sagen. Meines Erachtens kommt es darauf aber gar nicht an. In der zentralen Frage hat sich das Verwaltungsgericht völlig richtig und konsequent verhalten, indem es dem Bamf auferlegt hat, über alle anstehenden Entwicklungen Auskunft zu geben. Das ist die entscheidende Kommunikationsebene gewesen. Und diese wurde durch die unvollständigen Informationen des Flüchtlingsministeriums gewissermaßen umgepflügt.
Zur Bewertung der Abschiebung. Dass sie – wie Minister Stamp sagt – rechtlich einwandfrei war …
… wird nur behaupten können, wer die dargestellte Informationslücke geflissentlich ignoriert. Wenn sie bewusst gelassen wurde, war das ein arglistiges Verschweigen. Solange das aber nicht bewiesen ist, handelt es sich hier um eine Unterstellung, mit der ein Jurist nicht arbeiten kann. Ich stelle also lediglich ganz lapidar fest: Es wurden Informationen nicht gegeben, die bei sorgfältiger Behandlung des Vorgangs hätten erfolgen müssen. Nur so konnte es zu einer rechtswidrigen Abschiebung kommen.
Und wer trägt Ihrer Meinung nach dafür die Schuld?
Es geht hier nicht so sehr um Schuld, sondern um Verantwortung. Minister Stamp wird über die Details, die jetzt bekannt werden, nicht informiert gewesen sein. Musste er auch nicht. Aber wir Juristen sprechen von einer „Verantwortungssphäre“ – und die ist bei diesem Geschehensablauf eindeutig in Düsseldorf zu suchen. Von dort kamen die lückenhaften Auskünfte.