Matthias Jung Matthias Jung: «Das Wahlverhalten hat sich geändert»
Berlin/MZ. - Kein Meinungsforscher hatte die Liberalen in Niedersachsen so stark gesehen. Mira Gajevic sprach darüber mit Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen.
Herr Jung, haben Sie der CDU in Niedersachsen das Wahlergebnis vermasselt?
Jung: Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie sollten wir das denn getan haben?
Seit Monaten sahen Umfrageinstitute die FDP unter fünf Prozent. Dies dürfte viele CDU-Anhänger bewogen haben, FDP zu wählen. Fühlen Sie sich mitschuldig?
Jung: Mit unseren Umfragen messen wir die Stimmung zum Zeitpunkt der Befragung. Ich habe keinen Zweifel, dass wir die jeweilige Stimmung richtig wiedergegeben haben. Sicher haben die Umfragen eine Rolle in der Wahrnehmung der FDP-Schwäche gespielt. Aber ich glaube, dass allein schon durch die Berichterstattung der Medien in den vergangenen Monaten der öffentliche Eindruck einer desolaten FDP deutlich geworden ist.
Zumindest bei den taktischen Wählern haben Sie das Wahlverhalten beeinflusst.
Jung: Wir schreiben ja bei allen Umfragen, die wir veröffentlichen, immer dazu, dass es sich bei diesen Ergebnissen eben nicht um eine Prognose für den Wahlsonntag handelt, sondern nur um ein Stimmungsbild zum Zeitpunkt der Umfrage. Bei der letzten veröffentlichten Umfrage berichten wir über eine Stimmung, die fast zwei Wochen vor dem Wahltag liegt. Man kann da in der Tat darüber nachdenken, ob wir aufgrund des veränderten Wahlverhaltens die bisherige Zurückhaltung aufgeben, eine Woche vor der Wahl keine Umfragen mehr zu veröffentlichen. Dann könnten wir auch an einem Freitag vor der Wahl die uns vorliegenden aktuellen und zutreffenderen Umfrageergebnisse veröffentlichen. In Niedersachsen hätten sie zum Beispiel ein genaueres Bild von der Stärke der FDP gezeigt. Wir haben sie nicht veröffentlicht, weil es da eine entsprechende Absprache gibt.
Die 9,9 Prozent für die FDP haben Sie also nicht überrascht?
Jung: Nein. In der Tat war wenige Tage vor der Landtagswahl dieser Swing in den nicht veröffentlichten Umfragen deutlich erkennbar.
Wenn man nun aber die Umfragen bis kurz vor der Wahl zulassen würde, bleibt der Vorwurf der Wahlbeeinflussung trotzdem bestehen. Taktische Wähler in Niedersachsen hätten möglicherweise doch die CDU gewählt, wenn sie davon ausgegangen wären, dass die FDP sicher in den Landtag kommt.
Jung: Es gibt viele Argumente für und wider die Veröffentlichung von Umfragen vor dem Wahltermin. In beiden Fällen gibt es den Vorwurf, dass ein Teil der Wähler dadurch beeinflusst werden kann. Aber wenn es schon einen Einfluss von Umfragen gibt, dann wenigstens auf der Grundlage aktueller und zutreffender Informationen! Eine Beeinflussung auf der Basis von veralteten und möglicherweise falschen Informationen erscheint mir nicht akzeptabel. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass nicht nur Meinungsumfragen Einfluss ausüben. Eine Kommentarlage in einer sehr mächtigen Medienlandschaft, wie wir sie in Deutschland haben, bestimmt mindestens genauso stark die Erwartungshaltung über ein gutes oder schlechtes Abschneiden einer Partei. Es würde aber kein Mensch auf die Idee kommen, dass Redakteure eine Woche vor der Wahl keine Kommentare mehr schreiben dürfen, um nicht die Wähler zu beeinflussen.
Ist Ihr Geschäft schwieriger geworden?
Jung: Ja. Angesichts eines Wahlkampfs, der erst in den letzten 14 Tagen vor der Wahl richtig anfängt, können sie logischerweise vierzehn Tage vor der Wahl noch nicht wissen, wie die Stimmung um den Wahltag ist. In Niedersachsen waren zehn Tage vor der Wahl 40 Prozent der Wahlberechtigten nicht sicher, was sie wählen werden. Vor 20, 30 Jahren war es egal, wann ich die letzte Umfrage gemacht habe. Damals hatten wir festgefügte Bindungen an die Parteien, die Leute hatten sich spätestens drei Wochen vor der Wahl entschieden, dann gab es noch vier oder fünf Prozent hochgebildete Wechselwähler, die das Ergebnis aber kaum beeinflusst haben. Inzwischen hat sich das Wahlverhalten komplett verändert. Wir haben Wechselwähler, die lange nicht mehr so politisch interessiert sind. Die reagieren eher auf Kampagnen von Boulevardzeitungen als auf Meinungsumfragen, die sie kaum wahrnehmen.
Vor allem überraschende Ereignisse scheinen die Demoskopen aber zu überfordern. Die neun Prozent für die Piraten bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2011 hatte kein Institut auf dem Schirm.
Jung: Die Überschrift unserer Pressemitteilung zehn Tage vor der Niedersachsenwahl lautete: „Knappe Mehrheit für Rot-Grün – aber das Rennen ist noch nicht entschieden. FDP kann es schaffen“. Von daher ist in der qualitativen Bewertung das Ergebnis der Landtagswahl ja nicht so falsch gewesen. Es ist logisch, dass wir den wahltaktischen Swing zwischen der CDU und der FDP zehn Tage vor der Wahl noch nicht in dem Maße feststellen können. Was das gute Abschneiden der Piraten bei der Abgeordnetenhauswahl angeht, so wurden sie durch die Medien kurz vor der Wahl hochgeschrieben. Wir hatten damals unmittelbar vor der Wahl eine Umfrage, in der die Piraten bei 8 Prozent gemessen wurden. Die Frage ist, ob man das künftig veröffentlicht. Darüber sollten wir in den nächsten Monaten eine neue Debatte führen. Ich wäre für eine Veröffentlichung.