Leipziger Nikolaikirchen-Pfarrer Leipziger Nikolaikirchen-Pfarrer: Christian Führer gestorben

Leipzig - Sanfter Blick unter weißem Bürstenschnitt und kein bisschen revolutionär, so wirkte Christian Führer, der zeitlebens nie sein wollte, was sein Name vorgab. Dabeigewesen sei er bei dem, was er selbst „Revolution der Kerzen“ nannte, sagte der Mann, der 1980 Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche wurde. Dabei hatte Führer die Friedensgebete und Montagsdemos doch eigentlich erfunden.
Straße und Altar gehören zusammen
Doch der Sohn eines Dorfpredigers aus dem Altenburger Land war keiner der Lautsprecher der friedlichen Revolution in der DDR. Führer, nach dem Abitur in Eisenach als Theologie-Student nach Leipzig gekommen, begann bald nach seinem Amtsantritt in der zentral gelegenen Nikolaikirche, den von den Religion geschützten Raum nach außen zu weiten. „Offen für alle“ schrieb er auf ein Schild, das wörtlich gemeint war. Ob Bürgerrechtler oder Ausreiseantragsteller, Punk oder zweifelnder SED-Genosse - nach Führers Auffassung gehörten Straße und Altar zusammen, gehört doch ohnehin alles Gott, wie der Mensch, so die ganze Welt.
Nichts anderes als der Glaube daran habe ihm Kraft gegeben in all den Jahren, als nur ein paar Leute zu den Friedensgebeten kamen. Der Westen und der Osten spielten Annäherung, beide schienen sich miteinander abgefunden zu haben. Man handelte Menschen wie Ware, bedrohte einander routiniert mit Atomraketen. „Da saßen wir dann einmal zu sechst hier im Altarrondell“, erinnerte sich Christian Führer später, „Superintendent Magirius las einen Psalm, ich war auch dabei. Ziehen Sie uns zwei Profis ab, waren es nur noch vier aufrechte Christenmenschen.“
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Kein Zeichen der Hoffnung, kein Heraufdämmern einer Zukunft in Freiheit und Demokratie, wie sie sich Führer, damals gerade Mitte 40, erträumt hat. Der Vater von vier Kindern hat trotzdem oder gerade deshalb weitergemacht, er wusste es irgendwann selbst nicht mehr so genau. „Wo nur zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“, zitierte er das Evangelium nach Matthäus. Führer konnte auch witzig sein: „Da waren wir sechs ja schon doppelt so viele.“
Was dann im Oktober 1989 geschah, galt dem Mann, der in den letzten Jahren der DDR in einem stetig wachsenden Zwiespalt zwischen dem harscher werdenden Protest von politischen Basisgruppen und dem selbstverordneten Maß an Solidarität geriet, als Gottesbeweis. Ein „Wunder biblischen Ausmaßes“ nannte er dem Umstand, dass das DDR-System kampflos aufgab, nachdem es noch am Tag vor jenem historischen 9. Oktober wüste Drohungen ausgestoßen hatte. Am 7. Oktober, dem letzten Republik-Geburtstag, knüppelte die Polizei Proteste vom Nikolai-Kirchhof, Menschen wurden auf Lkws abtransportiert und weggesperrt. Und dann auf einmal die Menschenmassen am 9., der winzige Spruch „keine Gewalt“ und seine gewaltige Wirkung auf die Weltgeschichte. Vier Wochen später fiel die Mauer. Ein Jahr danach war der selbsternannte Arbeiter- und Bauernstaat und mit ihm die Zweiteilung der Welt Geschichte.
Pfarrer, Prediger, Erinnerer und Einmischer
Christian Führer hat nie Ämter angestrebt wie es Weggefährten taten, die oft erst Jahre nach ihm auf den bürgerrechten Pfad fanden. Er blieb lieber Pfarrer, Prediger, Erinnerer und Einmischer. Zufrieden war Führer damit, dass „alles, was 1989 als Forderungen auf den Plakaten stand, erfüllt ist“, wie er verriet, als er vor sechs Jahren in den Ruhestand ging: „Jeder kann sagen und schreiben, was er will, kann frei wählen und reisen.“
Nach den Maßstäben des Mannes, der sich in seiner Abschiedspredigt selbst als „theologisches Rätsel mit provozierender Bibelnähe, fragwürdiger Einseitigkeit und jesusähnlicher Radikalität“ skizzierte, ist all das aber nur Voraussetzung für ein erfülltes leben, nicht das erfüllte Leben selbst. Führer litt darunter, „dass wir Chancen vertan haben, die innere Einheit zu vollenden“. Ihn quälte zudem der Gedanke, dass „vom Materialismus letztlich niemand satt“ werde und auch ein Leben „unter der gnadenlosen Diktatur des Kapitals weder froh noch frei“ mache. Christian Führer hoffte, auf die Revolution der Kerzen werde eine Revolution der Herzen folgen. Vergebens. Gestern morgen ist der 71-Jährige in der Leipziger Uniklinik an den Folgen einer schweren Lungenerkrankung gestorben, unter der er seit zwei Jahren litt. (MZ)