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Kommentar  Kommentar : Wer nicht wählen geht darf auch nicht jammern

Von Jochen Arntz 12.03.2016, 07:24
Symbolbild
Symbolbild dpa

Berlin - Es war in einem Frühling vor 26 Jahren, da gingen die Menschen in Ostdeutschland zu ihrer ersten freien Volkskammerwahl. Manche von ihnen hatten monatelang „Wir sind das Volk“ gerufen, und jetzt nahmen sie die Sache ernst: Mit einer Wahlbeteiligung von mehr als 93 Prozent bestimmten sie an einem Sonntag zwischen Rügen und Gera, wer im ersten und letzten freien Parlament der DDR sitzen sollte. Man kann es nicht anders sagen: Diese Gesellschaft war politisiert.

Im Westen Deutschlands, in der alten Bundesrepublik zwischen Hamburg und München, hatte es so etwa zuletzt in den 70er Jahren gegeben. Im Herbst 1976 gingen mehr als 90 Prozent der Westdeutschen zur Bundestagswahl. Helmut Schmidt wurde wieder Kanzler. Man kann es auch da nicht anders sagen: Diese Gesellschaft war politisiert. Und heute?

Aufgewühltes Deutschland

Heute räumt selbst die Kanzlerin ein, dass das vereinigte Deutschland politisch aufgewühlt ist wie selten, dass alle Debatten zwischen Dresden und Aachen die Menschen extrem polarisieren. Nur: Zur Wahl geht oft nur noch eine Minderheit. Und viele aus der Mehrheit, die das alles nicht mehr interessiert, sind auch noch stolz darauf, sich der Politik zu verweigern. Bei den hessischen Kommunalwahlen freute man sich schon, dass immerhin noch 48 Prozent der Leute von ihrem Recht zur politischen Mitbestimmung Gebrauch machten. Bei der Wahl der Kölner Oberbürgermeisterin im vergangenen Jahr waren es gerade noch 40 Prozent.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es im Grundgesetz. Und darin steht auch, wie das funktionieren soll: die Staatsgewalt wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. „Das Volk“ - nicht nur in Dresden, wo die Pegida-Läufer und Mitläufer an jedem Montagabend aufziehen, auch in dem großen Dunstkreis der AFD hat dieses Wort zurzeit wieder Konjunktur. Nur: Wer jetzt schlecht gelaunt „Wir sind das Volk“ ruft, meint ja eigentlich: “… und wir haben nichts zu sagen.“ Und denkt sich: Wir gehen auch nicht wählen. Dabei setzt die Verfassung doch gerade darauf, auf ein Volk, das zur Wahl geht. Was ist da schiefgelaufen?

Ostdeutsche mit geringster Wahlbeteiligung

Manches ist extrem schwer zu erklären. Denn viele, die immer sagen, in diesem Land höre ihnen ohnehin keiner zu, engagieren sich noch nicht einmal bei Bürgerentscheiden oder bei den Wahlen in ihrer Stadt und ihrer Nachbarschaft. Es ist eine deutsche Eigentümlichkeit, dass die Leute umso eher wegschauen, je größer ihre Einflussmöglichkeiten sind. Die Beteiligung an Kommunal- und Landtagswahlen ist in der Regel kleiner als die bei Bundestagswahlen. Dort, wo Demokratie eigentlich beginnen müsste, endet sie meist schon.

Interessant ist auch, dass bei den Landtagswahlen der vergangenen Jahre in den ostdeutschen Bundesländern, mit Ausnahme von Berlin, die wenigsten Leute zur Wahl gingen. Im Westen der Republik war das Interesse größer. Die besondere Politisierung der Wende- und Umbruchzeiten in der DDR ist vergessen. Und vielleicht haben so viele Ostdeutsche auch kein Interesse am Wählen, weil sie denken, dass das System ein übergestülptes aus dem Westen war und ist. Eine ostdeutsche Kanzlerin und ein ostdeutscher Bundespräsident scheinen diese Annahme nicht zu erschüttern.

Aber da ist noch etwas Grundsätzlicheres, das für das ganze Land gilt. Nach der jüngsten Forsa-Umfrage, die das Magazin „Stern“ veröffentlichte, erklären 72 Prozent der Bundesbürger, also fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit: Die Politiker kennen die Sorgen und Nöte der Menschen nicht. Wer so denkt, glaubt nicht, dass von ihm die Staatsgewalt ausgeht. Wer so denkt, sieht keinen Sinn im Wählen. Das ist gefährlich. Und vielleicht einer der unangenehmsten Gründe für die große Wahlverweigerung in Deutschland. In der gleichen Umfrage erklärte aber auch fast die Hälfte der Leute: Ja, man darf in Deutschland nicht mehr alles sagen, was man wirklich meint, weil man sonst Nachteile erleidet.

Wer wählen geht, darf sagen, was er denkt

Das allerdings ist schwer zu ertragen: In einem Land, in dem die Hälfte des Volks regelmäßig freien und geheimen Wahlen fernbleibt, erklärt die Hälfte des Volks, es dürfe nicht sagen, was es denke. Viele, die sich von der Politik missachtet fühlen, missachten also ihrerseits die Politik. Es ist ein bisschen so, als glaube man die schlechten Lehrer seiner Kinder dadurch bestrafen zu können, dass man nicht zum Elternabend geht.

Sicher, wer wählt, setzt damit nicht gleich seine Meinung durch. Das ist auch nicht so gedacht. Aber wer wählen geht, darf sagen, was er denkt. Selbst, wenn er oder sie von dieser Demokratie nichts halten. Denn auch eine Partei wie die AfD, die ein eher distanziertes Verhältnis zu diesem Staat hat, steht ja auf den Wahllisten dieses Staates und ist erfolgreich. Und wer glaubt, „das Volk“ zu sein, sollte mal wieder das tun, was die Verfassung vom „Volk“ verlangt - und über die Zukunft abstimmen. Denn eins ist am Ende klar: Wer am Sonntag nicht wählen geht, darf am Montag nicht wieder jammern, dass er in diesem Land nichts zu sagen hat.