Katja Kipping und Reiner Haseloff im Gespräch Katja Kipping und Reiner Haseloff im Gespräch: "Die DDR war kein Rechtsstaat"

(Sie: 37 Jahre alt, Linke und Bundes-Opposition. Er: 61 Jahre alt, CDU-Politiker und Landesregierung. Katja Kipping und Reiner Haseloff haben die ostdeutsche Herkunft gemeinsam und sonst: nichts. Gegensätze ziehen sich an, die beiden sind aber die Ausnahme der Regel. Aber so soll es sein beim MZ-Gespräch in der sachsen-anhaltischen Landesvertretung in Berlin. Wir wollen verschiedene Blickwinkel: Auf die DDR, die Wiedervereinigung, die Zukunft. Zwei Stunden debattieren die Linken-Bundeschefin und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident. Es dreht sich auch um einen alten Hut, ein Symbol der Macht, vor dem sich jeder verneigen musste.
Das Gespräch führten die MZ-Redakteure Hartmut Augustin, Markus Decker und Kai Gauselmann.
Frau Kipping, Sie waren bei der Wiedervereinigung erst zwölf Jahre alt. Was ist für Sie ganz persönlich der 3. Oktober: Ein Grund zum Feiern - oder der Tag, an dem das Land Ihrer Kindheit zugrunde ging?
Kipping: Ich freue mich über jeden gesetzlichen Feiertag, auch über den 3. Oktober. Ich hatte damals zur Wiedervereinigung nicht das Gefühl, oh Gott jetzt bricht alles zusammen. Ich hatte aber auch keine Euphorie – ich war Zwölf. Für mich war die DDR der Ort, wo ich meine Kindheit verbracht habe und das war eine sehr schöne Kindheit, die ich in erster Linie meinen Eltern und Großmüttern zu verdanken habe.
Haseloff: "Es gab eine Klassenjustiz"
Ihnen fehlen gute wie schlechte DDR-Erwachsenenerfahrungen - Studium, Arbeit, Familie, Partei, Stasi. Reden Sie bei Unrechtsstaats-Debatten in Ihrer Partei mit oder überlassen Sie das den Älteren?
Kipping: Die Unrechtsstaatsdebatte ist so etwas wie der Gesslerhut: Im öffentlichen Diskurs muss man sich davor verbeugen und sagen, ja, die DDR war ein Unrechtsstaat - und wer nicht genau diese Vokabel verwendet, gilt als DDR-Nostalgiker. Ich sage deutlich: Ja, in der DDR hat es Unrecht gegeben. Aber es ärgert mich, dass es im öffentlichen Diskurs den Zwang zu diesem Bekenntnis gibt.
Haseloff: Ich habe ein paar Jahre mehr auf dem Buckel als Frau Kipping und habe Sachen erlebt, wo es nicht rechtsstaatlich zuging. Die DDR war kein Rechtsstaat. Das heißt nicht, dass Menschen nicht versucht hätten, nach moralischen Grundsätzen zu leben und zu entscheiden. Aber es war eine Diktatur, was in der Verfassung mit der Diktatur der Arbeiterklasse auch ausformuliert war. Das hat jeder gespürt, auch wenn er als SED-Mitglied Teil des Systems war.
Kipping: Es ist nicht zu entschuldigen, dass es etwa die Überwachung durch die Stasi gab und keine hundertprozentig unabhängige Justiz.
Haseloff: Es gab eine Klassenjustiz.
Kipping: Der Unrechtsstaats-Begriff lässt aber keine positiven Elemente zu, wie die Kinderbetreuung oder dass im Bildungswesen die materielle Situation der Eltern nicht entscheidend war. Auch wenn die ideologische Auslese nicht zu entschuldigen ist.
Haseloff: Wenn man studieren wollte, war aber schon mitentscheidend, ob man Arbeiter- oder Akademikerkind war. Mein Klassenkamerad wurde deshalb benachteiligt. Ich hatte Glück, dass ich Arbeiterkind war. Dafür hatte ich keine Jugendweihe, was andere Probleme mit sich brachte. Für mich zählt der praktische Befund: Wie man es erlebt hat. Und deshalb bin ich froh, dass ich jetzt in einem Rechtsstaat lebe.
Herr Haseloff, Sie waren 1990 schon 36 Jahre alt, hatten als Wissenschaftler Karriere gemacht und eine Familie gegründet. Blicken Sie auch mit Wehmut zurück?
Haseloff: Ich war wissenschaftlicher Mitarbeiter, das war die erste Stufe, von Karriere kann man da nicht sprechen. Wir waren und sind sehr kirchlich gebunden. Um ideologiefrei und ohne weltanschauliche Konflikte durch das Studium zu kommen, blieben für mich nur die Naturwissenschaften oder Medizin. Ich habe einen Weg gefunden, der mir Spaß gemacht hat. Ich habe heute manchmal Wehmut, dass ich meinen ursprünglichen Beruf nicht mehr ausübe. Natürlich denke ich auch an meine Kindheit und meine Heirat gerne zurück. Das waren alles glückliche Momente. Sie hatten aber nichts mit dem politischen System der DDR zu tun.
Kipping: "Gesellschaftliche Veränderung kann ganz schnell gehen"
Kipping: Von Wehmut würde ich in Bezug auf die DDR überhaupt nicht sprechen. Meine Biografie eignet sich nicht für einen Systemvergleich: Leute, die Opfer der Stasi waren, reden anders von der DDR. Jemand, der heute auf Hartz IV angewiesen ist, redet anders über die BRD. Ich persönlich bin eher froh, dass ich in meiner Kindheit und Jugend zwei unterschiedliche Systeme erleben konnte und Dinge, die scheinbar unverbrüchlich feststanden, sich in kurzer Zeit verändert haben - manche zum Besseren, andere aber zum Schlechteren. Das ist für mich heute eine Motivation: Wenn ich das Gefühl habe, alles ist so festgefahren, weiß ich - gesellschaftliche Veränderung kann manchmal ganz schnell gehen.
Herr Haseloff, was sagen Sie Ihren Enkeln, wenn die fragen, was diese DDR war, von der jetzt wieder so viel geredet wird?
Haseloff: Das Land, aus dem wir kommen. Wo wir Diktatur erfahren haben und versucht haben, aufrecht unser Leben zu gestalten. Ich erzähle aber auch, dass das Ausfluss der NS-Diktatur war, der größten Schandtat der deutschen Geschichte. Das verbinde ich mit dem Appell an meine Enkel, dass man dafür sorgen muss, dass so etwas nicht wieder vorkommt.
Auf Seite 2 erfahren Sie, warum Reiner Haseloff mit einem 20-Millionen-DM-Scheck in Wittenberg unterwegs war.
Frau Kipping, was sagen Sie Ihrer kleinen Tochter?
Kipping: Das war das Land meiner Kindheit. Wo es mehr soziale Sicherheit gab, aber demokratische Rechte untergeordnet wurden. Ein Land, wo viele mit edlen Absichten zu falschen Mitteln gegriffen haben. Ein Versuch Sozialismus zu errichten, der unter anderem deshalb scheiterte, weil Demokratie wenig zählte und Erneuerung nicht gewollt war.
War das vor 25 Jahren Vereinigung oder Übernahme?
Kipping: Formaljuristisch ein Beitritt der neugegründeten Bundesländer. Man hat einen juristisch schnellen Weg gewählt. Die Chance, die sich 1989/90 auch bot – einen echten dritten Weg zwischen sozialistischer Staatswirtschaft und Kapitalismus zu gehen -, wurde nicht einmal in Betracht gezogen.
Haseloff: Glauben Sie wirklich, dass wir dazu noch in der Lage gewesen wären? Wir waren bankrott. Wir hatten keine Zeit mehr zu gucken, was an welchem System besser und schlechter war. Der erste Verwaltungsakt, den ich machen musste als stellvertretender Landrat nach der Kommunalwahl, bestand darin, mit einem alten Lada wie alle anderen Landräte der alten DDR in den Ministerrat zu fahren. Wir standen alle Schlange und da saßen Lothar de Maizière und Walter Romberg (der damalige Ministerpräsident der DDR und sein Finanzminister, Anm. d. Redaktion) und haben uns Schecks ausgestellt, damit wir überhaupt noch Gehälter zahlen konnten. Da bin ich mit einem 20-Millionen-DM-Scheck zur Staatsbank nach Wittenberg gefahren und habe den mit zitternden Händen eingezahlt. Wir hatten keine Zeit für einen dritten Weg, sämtliche Staatsreserven waren aufgebraucht. Wenn wir da durch die alte Bundesrepublik nicht schon vor der Wiedervereinigung durch große Transferleistungen aufgefangen worden wären, wäre es in einer Katastrophe gemündet. Wir haben auch vieles in die Wiedervereinigung eingebracht, und zwar viel mehr als Westdeutsche zugeben würden.
Kipping: "Die Wiedervereinigung war keine Solidaritätsleistung"
Was denn?
Haseloff: Es ist zum Beispiel selbstverständlicher, dass Frauen selbstständig sind und arbeiten.
Kipping: Es ist einiges eingebracht worden. Eben, dass man sich nicht zwischen Kind und Karriere entscheiden muss und eine Kita nicht als Fremdbetreuung stigmatisiert wird. Oder die Poliklinik, die jetzt Ärztehaus heißt. Und ohne Systemkonkurrenz hätte es im Westen niedrigere Löhne gegeben.
Man kann den Prozess der Wiedervereinigung aber nicht wie Herr Haseloff nur als große Solidaritätsleistung des Westens erzählen. Das klingt ja geradezu wie ein Verhandlungsführer der Geberländer. Der Osten ist auch als großer Absatzmarkt hinzu gekommen. Mein Vater hat zum Beispiel in der Wendezeit versucht, vor Ort hergestellte Windeln zu verkaufen. Das ist daran gescheitert, weil sämtliche großen Supermarktketten Verträge mit westdeutschen Produzenten hatten. Für die ostdeutschen Produzenten war es ein sehr harter Kampf, in diese Vertriebsstrukturen zu kommen.
Und das Agieren der Treuhand war ja wohl alles andere als eine gute Sachverwaltung der bestehenden Betriebe. Da ging es vor allem darum, Betriebe für einen Appel und ein Ei zu verkaufen, wobei sich Einzelne auch noch bereichert haben. Ich will den Bankrott nicht schönreden. Aber was übrig blieb, ist dann von der Treuhand kaputt gemacht worden.
Haseloff: Das kann ich so nicht stehen lassen. Warum hätte der Osten zerstört werden sollen? Damit es möglichst teuer wäre, ihn wieder aufzubauen? Da wäre die Bundesrepublik doch mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen. Dass es Missbrauch, Fehlentscheidungen und kriminelle Energie gab, ist klar. Das waren aber schwarze Schafe. Es gab aber kein bewusstes, systematisches Agieren, um den Osten zu zerstören.
Frau Kipping, wenn Sie neue Leute in Ihrem Alter kennen lernen: Merken Sie dann auf Anhieb, ob Sie es mit Ost- oder Westdeutschen zu tun haben?
Kipping: In meinem Freundeskreis sind Ost und West gemischt, ohne dass die Unterschiede groß auffallen. Die Frage, bei welcher Jugendorganisation einer war und ob er Punk oder Techno hört, spielt eine größere Rolle als Ost oder West.
Haseloff: Bei uns war die Frage immer: Beatles oder Stones? Ich merke in meiner Generation aber schon, ob einer aus dem Osten oder Westen stammt. Zum Beispiel daran, was einem näher liegt. Im Osten haben wir mehr gelesen und sind meist belesener. Ich höre das auch am Dialekt. Ich kann recht gut Dialekte in Deutschland zuordnen. Bestimmte Eigenheiten halten sich auch. Bei Familienfeiern wird bei uns zum Essen mehr selbst gemacht.
Haseloff: "Es ist gut, dass man frotzelnd aufarbeiten kann."
Sind Sie manchmal neidisch auf biografische Erfahrungen von Westdeutschen?
Haseloff: Mir fehlt bei manchen Sachen die Hälfte des Lebens. Bei Reisen muss ich mir überlegen, welche Ziele ich mir vornehme, weil ich nicht mehr alles schaffen kann.
Kipping: Mit Zwölf habe ich noch keine Begrenzung gemerkt. Die fehlende Reisefreiheit wäre aber bestimmt einer der Punkte gewesen, mit dem ich Probleme bekommen hätte. Ansonsten fehlt mir das eine Jahr Schule. Ich habe das Abi in Sachsen nach zwölf Jahren gemacht, mein Mann in 13. Das ist ein Jahr mehr für humanistische Bildung.
Sie waren neulich beide in der TV-Satiresendung „Pelzig hält sich“ zu Gast, die sich am Ossi-Wessi-Schema abarbeitete. Ist so etwas harmlose Frotzelei oder muss man als Ossi in München erstmal nachweisen, dass man mit Messer und Gabel essen kann?
Haseloff: Das ist nicht nur Frotzelei. Das ist genau das, was dort an den Stammtischen geredet wird. Genauso, wie bei uns gewitzelt wird, dass Wessis 13 Schuljahre hatten, weil Schauspielunterricht dabei war. Es ist aber gut, dass man das mittlerweile frotzelnd aufarbeiten kann.
Kipping: Ich habe mich eher gefreut, wie Pelzig das Thema Flüchtlinge besprochen hat. Das andere habe ich nur so als Beiprodukt empfunden, der bayrische Stammtisch-Talk mit den entsprechend platten Witzen ist Teil der Satire und Satire darf – fast - alles.
Auf Seite 3: "Wenn in Ungarn das Blut vom Stacheldraht getropft wäre, hätten wir uns das hier in Ostdeutschland nie verzeihen können." (Haseloff)
Frau Kipping, im Vergleich verfügt der Osten über etwa 75 Prozent der Wirtschaftskraft des Westens - „nur“ oder „immerhin“?
Kipping: Nur. Ohne Berlin ist die Wirtschaftsleistung sogar ein Drittel schlechter. Das zeigt, dass das Experiment eines neoliberalen Ostens mit niedrigeren Löhnen und Renten - die dann in ganz Deutschland übernommen werden sollten - schiefgegangen ist. Die Unterschiede beim Bruttoinlandsprodukt haben sich verfestigt. Damit können und dürfen wir uns nicht zufrieden geben.
Haseloff: Ich sage: immerhin. Ich hätte nicht gedacht, dass wir das bei unserer Ausgangslage innerhalb einer Generation schaffen würden. Uns ist eine wahnsinnige Leistung gelungen, das sieht man, wenn man nach Osteuropa schaut. Wir erleben aber jetzt, dass die Schere nicht weiter zusammen geht oder an einigen Punkten wieder auseinander gehen könnte.
Dabei gibt es ein großes Versagen der Wirtschaftsinstitute, die uns für die nächste Phase des Zusammenwachsens bei der Politikberatung keine Instrumente an die Hand geben. Vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle zum Beispiel bekommen wir die immer gleichen Vorschläge: Innovation, Bildung, vor allem frühkindliche Bildung. Dabei haben wir bei der Kinderbetreuung fast 100 Prozent. Da muss uns gemeinsam mehr einfallen. Ich bin trotzdem nicht pessimistisch. Wir haben im vergangenen Jahr erstmals mehr Zu- als Abwanderer gehabt. Wir werden bei über zwei Millionen Einwohnern in Sachsen-Anhalt bleiben, das hilft uns.
Kipping: "Wir können uns den Fetisch 'schwarze Null' nicht leisten"
Das politische Thema der Stunde sind die gestiegenen Flüchtlingszahlen. Das Spektrum der Reaktionen in der Bevölkerung reichte von den Ausschreitungen im sächsischen Heidenau bis hin zum Willkommensfrühstück in Halle. Ist Ostdeutschland ökonomisch wie mental bereit und auch in der Lage, so viele Fremde aufzunehmen und zu integrieren?
Kipping: Ja. Wer, wenn nicht so ein reiches Land wie Deutschland sollte dazu in der Lage sein, dass auf 100 Einwohner ein bis zwei Flüchtlinge kommen. Schließlich ist die deutsche Politik nicht unschuldig an Fluchtursachen. Wer Waffen in alle Welt exportiert, darf sich nicht wundern, wenn diese Waffen Menschen anderswo in die Flucht treiben. Empörend ist, dass die Bundesregierung jetzt die Bevölkerung gegen die Flüchtlinge ausspielen will. Wenn Finanzminister Schäuble sagt, dass er umschichten muss, dann ahne ich schon, dass er das Geld nicht aus dem Verteidigungshaushalt nehmen will.
Haseloff: Wo soll das Geld denn herkommen?
Kipping: Indem man die Einnahmen erhöht.
Haseloff: Also höhere Steuern?
Kipping: Und zwar mit einer stärkeren Umverteilung von oben nach unten: Mit einer Millionärssteuer und der Anhebung von Körperschafts- und Erbschaftssteuer. Erbschaftssteuer nicht für der Oma klein Häuschen, sondern die Millionenerben. Bis das wirkt, können wir uns den Fetisch „schwarze Null“ nicht leisten. Wir müssen kurzfristig die Schuldenbremse aufheben.
Haseloff: "Beim Grundgesetz kann man sich nicht nur einen Teil raussuchen."
Gibt es im Osten eine Willkommenskultur?
Kipping: Ich habe beides erlebt: Übelsten Rassismus in Heidenau, aber auch ein Willkommensfest. Das Thema polarisiert nicht nur im Osten. In Hamburg gibt es auch Rassismus, nur in einer anderen Form. Reiche, die nicht wollen, dass ein Flüchtlingsheim in ihr schickes Wohnviertel kommt, nehmen einen Anwalt, der das auf dem Klageweg verhindert. Die haben andere Mittel, die medial aber nicht so auffallen wie der Mob in Heidenau.
Haseloff: Der Osten wird bei dem Thema skeptischer beäugt. Das entschuldigt aber nichts.
Kipping: Ich verstehe allerdings nicht, warum die Bilder aus Ungarn in Ostdeutschland nicht mehr Empathie geweckt haben. Es war Ungarn, das vor 26 Jahren die Grenze geöffnet hat.
Haseloff: Wissen Sie, Frau Kipping, die Entscheidung der Kanzlerin, die Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen, ist vielleicht genau deshalb so gefallen. Nachdem die Züge über München kamen, habe ich mit ihr telefoniert. Da hat sie gesagt: Nachdem was wir mit Ungarn erlebt haben, konnte ich nicht anders entscheiden. Wir sind ein Jahrgang, ich konnte die Kanzlerin gut verstehen. Wenn buchstäblich in Ungarn das Blut vom Stacheldraht getropft wäre, hätten wir uns das hier in Ostdeutschland nie verzeihen können.
Kipping: Ja, die Entscheidung von Frau Merkel war absolut richtig! Im Gegenzug kommt es aber nach dem Gegenwind aus der Union zu einer Verschärfung des Asylrechts. Verheerend!
Lassen Sie uns parteiisch werden. Wenn, dann können nur CDU und Linke behaupten, in Ostdeutschland Volksparteien zu sein. Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen Ihren Parteien?
Haseloff: Stehen Sie uneingeschränkt zum Grundgesetz, Frau Kipping?
Kipping: Was bitte soll die Frage? Ich bin ein großer Fan der Grundrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien. Die Schuldenbremse finde ich jedoch zum Beispiel nicht toll.
Haseloff: Beim Grundgesetz kann man sich nicht nur einen Teil raussuchen. Stehen Sie zum Grundgesetz?
Das riecht nach Gesslerhut.
Kipping: Genau, das ist ein Gesslerhut. Und ich reagiere auf die Pflicht zu Bekenntnissen allergisch. Es gibt viele Initiativen, die sich seit Jahren im Antifa-Bereich aufopferungsvoll engagieren und nur Fördergelder bekommen, wenn sie Bekenntnisse abgeben. Es gibt da Unterschiede. Die Grundrechte, die Artikel eins bis 20, dahinter stehe ich. In den 1990er Jahren wurde aber zum Beispiel im Grundgesetz das Recht auf Asyl eingeschränkt. Hinter dieser Einschränkung stehe ich nicht.
Haseloff: Sie suchen sich nur Artikel raus, die zu Ihren politischen Positionen passen. Wenn eine Zweidrittel-Mehrheit das Grundgesetz ändert, muss man als Demokrat dazu stehen. Ich habe eine Verfassung erlebt, die die Grundrechte nicht garantiert hat.
Kipping: "Ich habe drei Schichten am Tag"
Kipping: Als wir bei „Pelzig hält sich“ waren, hat Herr Haseloff eine Flasche Rotkäppchen-Sekt mitgebracht. Bei Geburtstagen gibt es bei uns auch Rotkäppchen-Sekt. Politisch sehe ich aber sehr große Unterschiede.
Um ein Schmidt-Wort zu variieren: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen oder zum MZ-Gespräch. Frau Kipping, wie sieht Deutschland in 25 Jahren aus?
Kipping: Wenn ich die Optimistin in mir wecke: Universelle soziale Rechte und Leistungen für alle, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Mit einer Mindestsicherung und einer solidarischen Mindestrente, die für alles im Leben reicht. Und es wird einen Kulturwandel hin zu mehr Zeitwohlstand geben. Damit unser Leben nicht mehr um die Erwerbsarbeit kreist und wir 40 Stunden und mehr arbeiten müssen wie verrückt. Bei dem neuen Wohlstandsmodell steht unsere kostbarste Ressource im Mittelpunkt: Unsere Zeit. Die Arbeitswoche der Zukunft sollte eher um die 30 Stunden kreisen.
Wieviel arbeiten Sie jetzt?
Kipping: Das hängt davon ab, ob sie die Familienarbeit dazu zählen oder nicht. Ich hab ja drei Schichten am Tag: Eine Schicht mit Zeit für meine Tochter, eine für meine Erwerbsarbeit als Bundestagsabgeordnete und eine als Parteivorsitzende. Ich achte aber darauf, dass ich in der Regel jeden Tag drei bis vier Stunden für meine Tochter habe.
Haseloff: Wenn die Kinder klein sind, ist das normal, dass man seine Ressourcen anders einteilen muss.
Herr Haseloff, Sie sind ja ein robuster Typ, in was für einem Land werden Sie 2040 leben?
Haseloff: Ich gehe erstmal davon aus, dass es Sachsen-Anhalt dann noch gibt. Denn der Föderalismus ist Deutschlands Stärke. Unser Land wird jünger sein als heute: Weil die Brüche der Transformation dann beseitigt sein werden. Unsere Chance wird sein, dass wir dann viel mehr flexible kleine und mittelständische Unternehmen haben, wodurch wir stabiler sein werden in konjunkturellen Schwächephasen. Und wir werden globaler sein. Durch Zuwanderer werden wir mehr kulturelle Vielfalt haben und uns besser den globalen Herausforderungen stellen. Das wird funktionieren, wenn auch diejenigen, die zu uns kommen, sich eindeutig zu unseren Grundwerten bekennen. Nachdem, was wir bereits an Veränderungen erlebt haben, werden wir aber auch das schaffen.
Kipping: Meine Hoffnung ist, dass in 25 Jahren uns allen bewusst geworden ist, dass die Flüchtlinge nicht eine Belastung waren - sondern uns gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell bereichert haben. Da sind alle politisch Verantwortlichen in der Pflicht. (mz)

