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Indien Indien: «Die ganze Gegend sollte entgiftet werden»

Von Can Merey 25.11.2004, 10:08
Die Methylisocyanat-Produktionsanlage steht noch wie zur Zeit der Katastrophe. An den Rohren des Turms klettern Schlingpflanzen empor, die Armaturen rosten vor sich hin. (FOTO: DPA)
Die Methylisocyanat-Produktionsanlage steht noch wie zur Zeit der Katastrophe. An den Rohren des Turms klettern Schlingpflanzen empor, die Armaturen rosten vor sich hin. (FOTO: DPA) EPA

Bhopal/dpa. - Wer in der Eineinhalb-Millionen-Stadt Bhopal mit Opfern sprechenwill, der muss nicht lange suchen. Am Stadtrand gibt es eine eigene «Kolonie der Gasopfer», wo in armseligen Wohnungen Frauen vonFehlgeburten und Männer von verlorenen Familien erzählen. 15 000Todesfälle im Zusammenhang mit dem Gas sind offiziell registriert,mehr als einer halben Million Verletzten wurden meist magereEntschädigungen zugesprochen. Hilfsorganisationen schätzen dagegen,dass in den ersten Tagen nach der Katastrophe 8000 und insgesamtzwischen 20 000 und 30 000 Menschen ums Leben kamen - bislang, denndas Sterben geht auch zwei Jahrzehnte später noch weiter.

Vishkarma hat überlebt, aber sie muss immer noch weinen, wenn sieüber damals spricht. Bei der Flucht vor der Gaswolke wird siebewusstlos, sie wacht im Krankenhaus wieder auf, wo sie Monate langbehandelt wird. Einer ihrer Söhne ist tot, ebenso ihr Schwiegervaterund ihr Schwager. Erst nach Wochen trifft die damals nicht einmal20-Jährige ihren Ehemann und ihren zweiten Sohn wieder. «Ich war sofroh, sie wiederzusehen», sagt sie. «Ich dachte, alle wärengestorben.» Doch einige Zeit später stirbt auch ihr Mann, derErnährer der Familie - am Giftgas, sagt Vishkarma, aber weil sie dasnicht beweisen kann, bekommt sie für seinen Tod keine Entschädigung.

Wie viele der Opfer hat Vishkarma Atemnot und Augenprobleme, undwie viele der Opfer kann sie kaum noch arbeiten - Hilfsorganisationengehen von bis zu 150 000 Menschen mit schweren Folgeerkrankungen aus.Ein Teufelskreis: Weil die Opfer kaum noch Geld verdienen, haben sieimmer weniger zu essen, mit ihrer Gesundheit geht es dann nochrapider bergab. «Manchmal sehe ich so schlecht, dass ich den Fadennicht durchs Nadelöhr bekomme», sagt die schmächtige Frau mit demtraurigen Blick, den man oft antrifft in Bhopal.

Wenn sie einige Meter vor ihre fensterlose Hütte tritt und ihreAugen es zulassen, dann kann Vishkarma heute noch sehen, wo das Gasherkam, das ihr die Familie raubte: Der Turm der Pestizidfabrik, ausdem es strömte, ragt nur wenige hundert Meter entfernt in denstrahlend blauen Himmel.

Vor der Katastrophe ist die Fabrik der Stolz Bhopals. Die Anlagegehört mehrheitlich dem US-Chemieriesen Union Carbide, und wer inBhopal bei Union Carbide arbeitet, der hat es zu etwas gebracht.Qamar Syed Khan gehört zu den Privilegierten. «Wir waren glücklich,hier arbeiten zu dürfen. Die Fabrik gab uns unseren Lebensunterhalt,es schien, als würde hier die Zukunft liegen», sagt der Chemiker.Khan steigt zum Produktionsleiter für hochgiftiges Methyl-Isocyanat(MIC) auf, am Tag der Katastrophe arbeitet er in der Frühschicht.

Heute züchtet der Chemiker, der nie zu lächeln scheint, Hühner.Sorgenfalten haben sich in sein Gesicht gegraben. Seit derKatastrophe kämpfe jeder nur noch ums Überleben, sagt Khan. «Es istsehr schmerzvoll, hierhin zurückzukommen.» Nach einerNierentransplantation seiner Tochter - vielleicht auch das eine Folgeder Gas-Katastrophe, meint er - ist er hoch verschuldet. Er brauchtdas Geld, das ihm Journalisten für einen Rundgang durch dieIndustrie-Ruine zahlen, die einst seine Arbeitsstätte war.

In den 70er Jahren gilt die neue Fabrik als vorbildlich, auch, wasihre Sicherheitsvorkehrungen angeht. Doch der Profit wird immergeringer, und - so sagen ehemalige Angestellte - dieSicherheitsstandards sinken. Am Abend der Katastrophe gerät Wasser ineinen MIC-Tank. Das MIC reagiert, es entsteht ein Giftgas mit bisheute unbekannter Zusammensetzung, das sich den Weg ins Freie bahnt.

Die MIC-Produktionsanlage steht noch wie zur Zeit der Katastrophe.An den Rohren des Turms klettern Schlingpflanzen empor, die Armaturenrosten vor sich hin. Die Wucht der chemischen Reaktion hat denMIC-Tank mit der Nummer 610 fast aus seiner Beton-Verankerunggerissen. «Sicherheit ist jedermanns Angelegenheit», steht imKontrollraum auf einem Schild - links darunter ist der Druckmesservon Tank 610. Die verbogene Nadel ist über der Maximal-Anzeige stehengeblieben, mehr als sechs Mal über dem erlaubten Limit.

Union Carbide, inzwischen von Dow Chemicals aufgekauft, räumt ineiner neuen Stellungnahme ein, dass Sicherungssysteme damals fürWartungsarbeiten heruntergefahren gewesen sind, weil die ganzeProduktion still stand. Aber, so sagt Union-Carbide-Sprecher TommSprick, auch die Sicherungssysteme hätten «eine chemische Reaktionvon solchen Ausmaßen nicht daran gehindert, ein Leck (für das Gas) zuerzeugen». Union Carbide übernahm die «moralische Verantwortung» fürdie Katastrophe, geht aber bis heute davon aus, dass ein SaboteurWasser in den Tank leitete. Die Verschwörungstheorie basiert aufeiner Studie im Firmenauftrag, die andere Möglichkeiten ausschließt.

«Das war keine Sabotage», sagt Khan. Die Rohre seien für dieüblichen Wartungsarbeiten mit Wasser durchspült worden, das durch eindefektes Sicherheitsventil dann in Tank 610 gelangt sei. «Das warschiere Fahrlässigkeit des Personals.» Niemand habe damit gerechnet,dass Wasser in den Tank geraten könne. Und niemand habe geahnt, dassMIC, von dem in der Anlage in Bhopal viel zu viel gelagert gewesensein soll, so katastrophal mit Wasser reagieren würde.

Die Katastrophe, sagt der frühere Produktionsleiter, hätteverhindert werden können. Am Abend des Unheils gelingt das derNachtschicht nicht, die Gaswolke treibt unaufhaltsam auf dieElendsviertel neben der Fabrik und auf die Stadt zu. Niemand hat denMenschen gesagt, dass es genügen würde, durch ein nasses Handtuch zuatmen, um dem Tod zu entgehen - Wasser neutralisiert das Gift. DerTod durch das Gas ist qualvoll: Der Transport von Sauerstoff imKörper wird gestoppt, die Lunge läuft voll Sekret, man erstickt.

Verzweifelt versuchen die Menschen, sich in die Krankenhäuser derStadt zu retten. H.H. Trivedi ist damals ein junger Arzt und hatNachtbereitschaft. Als einer der ersten Mediziner kommt er imHamidia-Krankenhaus am Hügel über dem großen See Bhopals an. Ihmbietet sich ein Bild des Grauens. «Ich konnte die Menschen nichtzählen, es waren Tausende», erinnert er sich. «Sie husteten, ihreAugen tränten, sie übergaben sich und hatten Schaum vorm Mund.» Aufdem Boden, auf der Veranda, auf jedem freien Fleck im Krankenhauslagen Sterbende. «Es war schlicht ein unvorstellbarer Albtraum.»

Tagelang arbeiten die Ärzte durch, obwohl sie selber unter dem Gasleiden - bei Mund-zu-Mund-Beatmung atmen sie es aus der Lunge derPatienten ein, und das Gas hat sich in den Kleidern der Opferfestgesetzt. Irgendwann bricht auch Trivedi zusammen - um direktdanach weiterzumachen. Am schlimmsten für ihn und seine Kollegen: Siehaben keine Ahnung, wie sie den Leidenden helfen könnten. «Wirwussten nicht, was für ein Gas es ist», sagt Trivedi. EinUnion-Carbide-Arzt habe ihm gesagt, es gebe keinen Grund zur Sorge,«in ein bis zwei Stunden werden die Probleme einfach weggehen» - umTrivedi herum sterben derweil massenhaft Menschen.

Die Patienten hätten ihn angefleht, sie von ihrem Husten und ihrerAtemnot zu befreien. «Wenn wir nur gewusst hätten, was wir ihnengeben sollen, dann hätten wir sie von ihren Qualen erlösen können.Aber bis heute wissen wir nichts von einem Gegenmittel oder vonBehandlungsmethoden», sagt er. Immer noch sei unklar, welcher Stoffdie Menschen in jener Nacht vergiftet habe - und was dieLangzeitfolgen seien. Eines allerdings sei gewiss: «Einehundertprozentige Heilung gibt es nicht.»

Heute litten die Opfer unter Atemnot, Husten, wiederkehrendemFieber und Gliederschmerzen, sagt der Arzt M. Ali Qaiser von derSambhavna-Klinik in Bhopal. Manche Frauen bekämen ihre Periode dreiMal im Monat, manche alle drei Monate, manche gar nicht. Inzwischenkämen allerdings immer mehr Patienten in die Klinik, die Symptome wieDurchfall, Blutarmut und Hautkrankheiten aufwiesen - für Gasopferuntypisch. Die Ärzte führen das auf verseuchtes Grundwasser zurück.

Die Regierung des indischen Bundesstaats Madhya Pradesh und DowChemicals als Nachfolger für Union Carbide streiten immer noch darum,wer das Fabrikgelände aufräumen und die Altlasten beseitigen lassensoll. Dow Chemicals meint, nach dem Unglück seien Aufräumarbeiten derFirma von indischer Seite aus verhindert worden. 1998 wurde das Arealoffiziell dem Bundesstaat überschrieben - Dow Chemicals sieht daherMadhya Pradesh in der Pflicht. Die dortige Regierung fordert, dassDow Chemicals das aufräumt, was Union Carbide hinterlassen hat.

In einer Lagerhalle der alten Fabrik stapeln sich aufgeplatzteSäcke mit Gift, Graffiti an den Wänden zeugen davon, dass sich hiermanchmal Menschen aufhalten. Auch Kühe verirren sich dorthin, auf demBoden liegt Dung. Auf dem belasteten Fabrikgelände, zu dem derZutritt eigentlich strikt verboten ist, spielen Kinder Kricket.Frauen aus den umliegenden Slums sammeln Brennholz. «Wie können dienur hier herumlaufen», murmelt Khan. In den alten Tanks, sagt er,seien noch Reste von Chemikalien. «Die ganze Gegend sollte entgiftetund gesäubert werden.»

Laut Greenpeace-Studien sind aus der nie abgebauten PestizidfabrikGifte ins Grundwasser gelangt. Handpumpen in der Umgebung hat dieStadtverwaltung rot gekennzeichnet, Schilder warnen davor, das Wasserzu trinken. Zwischen Bretterverschlägen, die mit Folien notdürftigabgedeckt sind, pumpen Kinder in einem Slum nahe dem Fabrikgeländetrotzdem eifrig Wasser für ihre Familien. Daneben steht ein neuerTank, von den Behörden geliefert, eigentlich soll er von Tankwagenmit Trinkwasser befüllt werden. Er ist leer.

Ein oder zwei Mal die Woche komme der Tankwagen, sagt MuhammadMustak, der in dem Slum wohnt. «Das Wasser reicht nicht.» So gingendie 300 bis 400 Menschen, die auf das Wasser angewiesen sind, ebenweiter zu der Pumpe. «Wir wissen, dass es kein Trinkwasser ist», sagtder 42-jährige Gelegenheitsarbeiter. «Aber was sollen wir tun, wennwir kein anderes Wasser haben?» Besonders die Kinder, die das Wassertrinken, könnten die nächsten Opfer der Katastrophe von Bhopal sein.

Ihnen würde dann nicht einmal die dürftige Entschädigung zustehen,die die Gas-Geschädigten bekommen haben. Ohne Rücksprache mit denBetroffenen einigte sich die indische Regierung, die per Gesetz alleOpfer vertritt, 1989 mit Union Carbide auf eine Entschädigung von 470Millionen US-Dollar (rund 355 Millionen Euro) - ein skandalösniedriger Betrag, meinen nicht nur Geschädigte undHilfsorganisationen.

20 Jahre später ist das Geld immer noch nicht vollständigausbezahlt. Für die meisten Verletzten gab es bislang umgerechnet jerund 500 Euro, derselbe Betrag soll nun noch einmal an sie gezahltwerden. Mit 500 Euro, so hat eine Hilfsorganisation errechnet,konnten sich die Geschädigten seit der Katastrophe gerade mal eineTasse Tee am Tag kaufen.