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Spahns Aussage auf dem Prüfstand Hartz IV: Jens Spahns Aussage auf dem Prüfstand

Von Stefan Sauer 12.03.2018, 16:25
Symbolbild
Symbolbild dpa-Zentralbild

Berlin - Jens Spahn ist etwas wirklich Bemerkenswertes gelungen. Noch ist der CDU-Politiker nicht als neuer Bundesgesundheitsminister vereidigt, schon wird er aufgefordert, doch bitte auf das Amt zu verzichten. Anlass ist Spahns jüngste Einlassung, Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei „die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut“. Mit den Regelsätzen bekomme „jeder das, was er zum Leben braucht“. 

Diese Ansicht trifft außerhalb der Union auf breites Unverständnis. Spahn erweise sich mit seinen kaltherzigen abgehobenen Äußerungen als ungeeignet für das Ministeramt, befand der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken im Bundestag, Jan Korte. Grünenchef Robert Habeck nannte die Äußerungen des CDU-Politikers „überheblich“. Den Betroffenen gehe es trotz Hartz IV „nicht gut, und da müssen wir ran“, betonte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.

Der in der Wortwahl milde, im Kern aber schmerzlichste Widerspruch kommt aus den eigenen Reihen: Gutverdienende Menschen „wie er oder ich“ sollten nicht erklären, „wie man sich mit Hartz IV fühlen sollte“, sagte die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Damit zielt die neue starke Frau in der CDU auf den unbestreitbaren Umstand, dass Spahn als Minister über das 30-fache Bruttoeinkommen eines alleinstehenden Hartz-IV-Empfängers verfügt.

Hartz-IV-Leistungen deutlich unter Schwellenwert

Aus Sicht der Sozial- und Armutsforschung ist Spahns Behauptung in der Tat kaum haltbar. Die aktuellen Regelsätze liegen sämtlich unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Seit 1. Januar erhält ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger 416 Euro monatlich plus Wohngeld, ein Paarhaushalt bekommt zwei mal 332 Euro. Für Kinder und Jugendliche zahlt der Staat je nach Alter zwischen 240 und 316 Euro pro Monat. Insgesamt beziehen derzeit rund 4,3 Millionen Menschen in Deutschland Hartz-IV-Leistungen, weitere 1,7 Millionen Sozialgeld in gleicher Höhe.

Die Leistungen liegen deutlich unterhalb der Schwellenwertes von 60 Prozent des mittleren Haushalteinkommens, der internationale als Armutsgefährdungsgrenze herangezogen wird. Danach galt im Jahr 2016 ein Alleinstehender, der monatlich weniger als 1065 Euro zur Verfügung hatte, als arm. Für ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt die Schwelle bei 2234 Euro verfügbarem Einkommen. Nach dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung war 2016 fast ein Fünftel (19,7 Prozent) der inländischen Bevölkerung von Armut bedroht. Das entspricht 16 Millionen Menschen, darunter 2,7 Millionen unter 18-Jährige.

Arme sind häufiger ungesunden Umgebungen ausgesetzt

Insbesondere die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder werden von Sozialverbänden und Linken seit langem als unzureichend kritisiert. Und nicht nur von ihnen. Auch die Anhänger der Union sind keineswegs der Ansicht, mit Hartz IV bekomme jeder, was er brauche. In einer Umfrage des Deutschen Kinderhilfswerks vom vergangenen Spätherbst äußerten 58 Prozent der CDU/CSU-Wähler die Ansicht, die Politik tue zu wenig gegen Kinderarmut. Fast zwei Drittel der Unionsanhänger befürworteten Steuererhöhungen, sofern die Mehreinnahmen gezielt gegen Kinderarmut eingesetzt würden. Und 72 Prozent aller Befragten sprachen sich höhere Hartz-IV-Leistungen aus.

Dabei hängt am Geld nicht allein die Frage, ob Bio-Filet oder Nudeln mit Tomatensoße auf den Mittagstisch kommen. Nach einer Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung lebt fast jeder vierte Bundesbürger mit geringem Einkommen in einer Wohnung mit feuchten Wänden, während in der Gesamtbevölkerung nur jeder achte davon betroffen ist. Andere Untersuchungen zeigen, dass Arme häufiger an verkehrsreichen Straßen wohnen als Gutbetuchte, dass sie Lärm, Feinstaub und Schadstoffen deutlich stärker ausgesetzt sind, dass sie überdurchschnittlich häufig an Herzkreislauferkrankungen und Diabetes leiden. Die Lebenserwartung des ärmsten Bevölkerungszehntels liegt für Männer um elf, für Frauen um acht Jahre unter der Lebenszeit des obersten Zehntels.

Armut macht dumm, Dummheit aber nicht zwingend arm

Der wohl bedrückendste Befund zur Armut in Deutschland betrifft ihre Vererbbarkeit. Kinder aus benachteiligten Familien weisen weitaus schlechtere Bildungserfolge auf als besser gestellte, sie verdienen weniger, steigen seltener auf und tragen ein größeres Risiko, einst in der Grundsicherung im Alter zu landen. Letzteres gilt im Übrigen nicht nur für arbeitslose Hartz-IV-Empfänger, sondern auch für Aufstocker und andere Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Wie stark die soziale Herkunft Erfolg und Misserfolg im reichen Deutschland prägt, zeigte zuletzt eine Studie des Stifterrates und der Unternehmensberatung McKinsey vom vergangenen Jahr.

Danach nehmen 74 von 100 Kindern mit mindestens einem akademisch gebildeten Elternteil ein Studium auf, aber nur 21 Prozent der Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten und gar nur sechs Prozent aus Arbeiterfamilien. Während zwei Drittel der Kinder aus dem Bildungsbürgertum einen akademischen Abschluss schaffen und zehn Prozent sogar promovieren, liegen die Vergleichswerte in Uni-fernen Haushalten bei 15 sowie einem Prozent. Überspitzt könnte man sagen: Armut macht dumm, Dummheit aber nicht unbedingt arm. Wer mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, fällt auch als Trottel weich. Donald Trump ist hierfür beileibe nicht das einzige Beispiel.

Freiheit von Armut bedeutet, überhaupt erst sich eigener Fähigkeiten bewusst zu werden, sie entwickeln zu können und darauf zu vertrauen; sich dazu gehörig zu fühlen, mitmachen zu können, ernst genommen zu werden und respektiert. Das will Jens Spahn sicher auch. Vielleicht sollte er sich der Alltagsweisheit besinnen, der zufolge Schweigen Gold ist – und unreflektiertem Gerede jedenfalls vorzuziehen.