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Rückblick auf denkwürdigen Tag Große Koalition: Ein "Passt scho" beendet 30 Stunden Verhandlung

07.02.2018, 17:15
Horst Seehofer nach dem Verhandlungsmarathon
Horst Seehofer nach dem Verhandlungsmarathon AFP

Berlin - Als der Aufbruch näher rückt, äußert sich das zuerst in Grippetabletten. Carsten Schneider zieht sie aus der Tasche. Der Fraktionsgeschäftsführer der SPD macht eine Pause. Er verhandelt seit 24 Stunden durchgehend, eine kleine Auszeit kann man da vermutlich brauchen, und sei es an der Schiebetür der CDU-Zentrale: Ein bisschen frische Luft von außen und eine Grippetablette gibt es da für Schneider. Es wird hell in Berlin, der Morgen kommt auf jeden Fall.

Wenig später dringt nach außen: Die neue Regierung steht. Über vier Monate nach der Bundestagswahl, 136 Tage genau, nach zehn Tagen Koalitionsverhandlungen und einer durchwachten Nacht, sind sich CDU, CSU und SPD einig: Sie wollen zusammen regieren. Sie haben das festgehalten auf 177 Seiten. Ein neuer Aufbruch. Eine neue Dynamik. Ein neuer Zusammenhalt, steht darüber.

Alexander Dobrindt hat gute Laune

Als der Aufbruch fest steht, verlässt Angela Merkel den Verhandlungsort durch die Tiefgarage, in einem Auto mit verspiegelten Scheiben. Finanzsstaatsekretär Jens Spahn und Carsten Linnemann, beide vom Wirtschaftsflügel der CDU, verlassen wortlos und mit Mienen das Haus, die sich als Vorboten von Unbill deuten lassen. Der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt dagegen kommt flankiert von den Generalsekretären seiner Partei und verkündet fröhlich: „Wir sind zufrieden.“

Von der SPD lässt sich Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz sehen, allerdings kaum hören: „Ganz gut“, sei das Ergebnis, quetscht er heraus. Bei dem wortkargen Scholz jedoch sind zwei Worte schon fast ein Redefluss. Ganz gut: Scholz soll Finanzminister und Vizekanzler werden.

Dann kommt für die CDU doch auch noch ein fröhlicher Mensch: Kanzleramtsminister Peter Altmaier hat sein Jackett locker über die Schulter geworfen und strahlt. „Ein richtig guter Tag für unser Land“ sei dieser 7. Februar, sagt er. Die Regierung werde „für viele Bürger viel Positives bewirken“. Er sieht wirklich vergnügt aus, vor allem nach einer durchwachten Nacht, und fügt hinzu: „Jetzt gehen wir erstmal duschen.“ Altmaier hat das Wirtschaftsministerium in Aussicht.

Frische Hemden für die Marathon-Verhandler

Kurz vorher hat ein Helfer einen Satz frisch gewaschene weiße Hemden in die Parteizentrale geliefert, verpackt in durchsichtiger Plastikfolie. Er verlässt das Haus mit einer Tüte, in der sich weiße und rote Textilien knüllen. „Berufsbekleidung für zwei Millionen Arbeitnehmer täglich“, steht auf seinem Lieferwagen. Das wäre es noch, eine Groko-Berufsbekleidung, ein bisschen Zusammenhalt auch optisch. Steht aber nicht im Koalitionsvertrag.

Es ist die dritte große Koalition seit 2005, die da in dieser Nacht gebildet wurde. Es ist die Standardregierungsform mittlerweile, trotzdem soll es ein Aufbruch sein.

Sieger und Verlierer?

Für manche Beteiligte ist es das auf jeden Fall, in die eine wie die andere Richtung, nach oben auf der Karriereleiter oder nach unten. Thomas de Maizière etwa, der einst als Kanzlerinnennachfolger galt, immer wieder neue Positionen im Kabinett übernommen hat, weil jemand anderes seinen alten Job wollte. So ist es jetzt wieder und nichts mehr ist übrig. De Maizière scheidet aus. Er verlässt seine Parteizentrale nach einem kurzen Aufenthalt als einer der ersten, und diesmal nicht nur zum Duschen.

Dorothee Bär aus der CSU etwa, eilt auf sehr hohen Absätzen ins Konrad-Adenauer-Haus und vermutlich in ihre Zukunft als Entwicklungshilfeministerin. Die Vorsitzende der Frauen-Union, Annette Widmann-Mauz, kann sich Hoffnung machen auf das Gesundheitsministerium.

Andreas Scheuer dürfte Verkehrsminister werden und verlässt umgehend seine bisherige Rolle als dauerwahlkämpfender CSU-Generalsekretär. Er tauscht das Zuspitzen gegen das Versöhnliche. „Es geht nicht um Sieger und Verlierer“, sagt er, und dass man nun mal Kompromisse machen müsse und dass man sich immer mehr vorstelle als man schließlich bekommen könne.

Keine Sieger, keine Verlierer - das hängt davon ab, ob und wie man all die Kompromisse gegeneinander aufrechnet, Familiennachzug gegen Gesundheit gegen Arbeitsverträge gegen dies und das. Auch bei den zentralen Streitpunkten hat die SPD Kompromisse machen müssen. WIchtig sei, „dass wir uns da auf den Weg machen“, sagt die amtierende Familienministerin Katarina Barley. So viele Ministerin für die SPD, das wird hervorgehoben.

Ist es nun ein Aufbruch? Auf jeden Fall ist es ein Umbruch: Auch für Martin Schulz, der nun offenbar Außenminister wird. Noch nicht einmal der Vize-Kanzlerposten ist für den Mann übrig geblieben, der vor einem Jahr noch der Heiland der SPD war. Sein Amt als Parteichef übergibt Schulz nach diesem einen Jahr, das so kurz glücklich und so lange unglücklich war für ihn, an Andrea Nahles, die Fraktionsvorsitzende, die spätestens seit ihrem furiosen Auftritt auf dem Sonderparteitag ohnehin als heimliche Parteichefin galt.

Ein Zurückstecken ist das, das aber Schulz’ Rettung sein könnte. Schließlich hat er es ja als Parteichef noch ausgeschlossen, in ein Kabinett Merkel einzutreten. Lieber zurücktreten, als dazu aufgefordert werden, das ist da die bessere Wahl.

Nahles soll die Partei einen

Es ist auch ein Aufbruch für seine geschüttelte Partei - die erste Frau rückt an die Parteispitze und außerdem noch eine, die zwar jünger ist als Schulz, aber deutlich geschickter und erfahrener, auch als viele der Parteichefs vor Schulz. Eine ehemalige Juso-Chefin, die sich gerieben hat an Gerhard Schröder und dessen Agenda 2010, dem modernen Trauma der Sozialdemokraten, und der dessen Gefolgsleute auch deswegen einst höhere Posten in der Partei verweigern wollten. Und die nun die SPD einen soll, in der vor allem die Jusos mit ihrem Vorsitzenden Kevin Kühnert, dem (mindestens) Nach-Nach-Nach-Nach-Nachfolger von Nahles, gegen die große Koalition zu Felde ziehen.

Ihre No-Groko-Kampagne hat nun eine schwere Hypothek: Sagen die zur Abstimmung aufgeforderten SPD-Mitglieder Nein zu dem so mühsam vereinbarten Regierungsbündnis, ist die designierte neue Vorsitzende auch gleich wieder weg. In einer neuen Regierung könnte sie als Fraktionschefin deutlich leichter parteiisch agieren als ein Parteichef der gleichzeitig Minister ist.

Es ist auch ein Umbruch für Horst Seehofer, mindestens. Er wechselt nun von München wieder zurück nach Berlin. Super-Minister werde er, verkündet die CSU, die immer schnell ist darin, Superlative zu finden. Aber seine mächtigste Zeit hat Seehofer wohl gehabt, er gibt den Ministerpräsidentenposten in Bayern ab an Markus Söder. Er bleibt Parteichef, allerdings auf Abruf. Und er ist wieder ein Minister unter vielen unter Merkel. Das Prädikat „Super“ muss da mindestens her als Trost.

„Wenigstens haben wir noch das Kanzleramt“

Und dann ist da ja noch Angela Merkel, die Kanzlerin, die das nun wohl auch erstmal bleiben wird. Schmerzhafte Kompromisse werde man machen müssen, so hatte die Kanzlerin den letzten Verhandlungstag angekündigt. So wirkt es dann an diesem Tag, an dem weniger die Inhalte als die Personalien in den Vordergrund rücken. „Puuuh! Wenigstens haben wir noch das Kanzleramt!“, twittert der CDU-Bundestagsabgeordnete Olav Gutting, als die Ressortverteilung nach außen sickert.

Das Verteidigungsressort behält Ursula von der Leyen, aber das gilt als schwierig und wem in der CDU Merkel ein Dorn im Auge ist, hat bestimmt seine Hoffnung nicht auf von der Leyen gerichtet. Außerdem gibt es für die CDU die Ressorts Wirtschaft, Bildung, Gesundheit. Weg ist das Finanzministerium, das Innenressort und für die Familie ist wieder die SPD zuständig. Es gehört zu den amüsanten Randerscheinungen an diesem Tag, dass ausgerechnet AfD-Fraktionschef Alexander Gauland sich darüber so besorgt zeigt, als liege ihm wirklich etwas am Wohlergehen der CDU.

Merkels Jackett ist hoffnungsgrün

Die drei Parteivorsitzenden jedenfalls verkünden irgendwann am Nachmittag dann auch selbst die Einigung, die da schon lange bekannt ist. Von einer „Grundlage für eine gute, stabile Regierung“ spricht Merkel, das Jackett hoffnungsgrün. Ein Aufbruch, sagt Schulz, der meist nach einer so langen Pause zu reden anfängt, wenn es scheint, dass er vermutlich die Frage schon vergessen hat. „Passt scho“, sagt Seehofer und liefert nach den Satzgirlanden seiner Kollegen das prägnanteste Zitat. Merkel wischt jegliche Kritik beiseite, indem sie darauf hinweist, dass es ja sicher jede Menge Kritik geben werde. Und wie ist das mit dem befürchteten Bedeutungsverlust der CDU im Kabinett: Man vermisse immer das, was man gerade noch hatte, sagt Merkel. Jetzt habe man das Wirtschaftsressort und vermisse das Finanzministerium, bisher sei es umgekehrt gewesen.

Es wird sich zeigen, wie die Truppe um Spahn und Linnemann sich da einfügt, die Merkel-Kritiker, die Vertreter des Wirtschaftsflügels, die gefährlich werden können, wenn sie sich weiter missachtet fühlen. Personallisten kursieren in der CDU, noch wird gerungen. Alles offen, heißt es vorsichtig in der Partei. Die Kanzlerin bittet im Parteivorstand um Geduld, sie müsse noch nachdenken.

Schulz wendet sich an Jusos

Schulz ist der einzige, der betont, seine Partei habe sich besonders durchgesetzt. Und er richtet sich auch noch direkt an die Jusos, die ihm so zusetzen. Bafög-Verbesserungen werde es geben, sagt er. Das sei ja eine zentrale Forderung „der Jungsozialisten“ gewesen. Sehr deutlich spricht er dieses Wort: Jungsozialisten. Es klingt wie ein mahnendes „Jens-Fridolin“, das über einen Spielplatz schallt.

Und nach ein paar Wochen und mittlerweile 30 Stunden fast am Stück verlassen sie das Haus. Nicht zusammen, aber doch irgendwie gemeinsam. Passt schon, zumindest in diesen Minuten. Und zumindest, weil alle gerade mal einigermaßen froh sind, sich jetzt erstmal nicht mehr treffen zu müssen, zumindest nicht zum Verhandeln. Für den Aufbruch oder das, was dazu werden soll, sieht man sich dann ja in ein paar Wochen wieder, nach dem SPD-Mitgliederentscheid. Oder auch nicht.