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Flüchtlinge in Deutschland Flüchtlinge in Deutschland: Dorf in Rheinland-Pfalz nimmt eigenständig Asylbewerber auf

Von Bernhard Honnigfort 15.05.2015, 16:00
Rheinland-Pfalz. Ein Dorf nahe Bingen kümmert sich: Münster-Sarmsheim. Hier finden die Leute, dass es besser ist, Asylbewerbern zu helfen, als sie zu ignorieren.
Rheinland-Pfalz. Ein Dorf nahe Bingen kümmert sich: Münster-Sarmsheim. Hier finden die Leute, dass es besser ist, Asylbewerbern zu helfen, als sie zu ignorieren. imago/Westend61 Lizenz

Münster-Sarmsheim - Nur einen Finger breit , dicker ist sein Roman nicht, der ihn hergeführt hat nach zwei Jahren Flucht. „Der Rand der Illusion“, heißt das Buch. Es erzählt auf Arabisch, wie Syrien zerfällt, wie sich ein Land auflöst, zerrieben wird zwischen Assads Diktatur und den Propagandisten eines Kalifatstaats. Als Yahya Ahmad das Werk schrieb, war es eine düstere Prophezeiung. Mit der Zeit wurde sie wahr. Er könne nicht zurück nach Syrien, warnte sein Bruder ihn neulich am Telefon: Sein Buch habe für Wirbel gesorgt. Wenn die eine Seite ihn erwischte, würde er im Gefängnis landen, wenn die andere Seite ihn in die Finger bekäme, würde ihm der Kopf abgehackt.

„Nun ja“, sagt Yahya Ahmad, 47 Jahre alt, Kinderarzt aus Latakia in Syrien. Er will sich nicht beklagen. Der Kopf ist noch dran, seine Frau und die Kinder sind im Libanon vorläufig in Sicherheit. Also beginnt er eben ein neues Leben in Münster-Sarmsheim, 3749 Kilometer von Latakia entfernt, bei Bingen in Rheinland-Pfalz.

Ahmad ist ein gut gelaunter Mann, der das Leben nimmt, wie es kommt, und das Beste daraus macht. „Ein schöner Ort“, sagt er über Münster-Sarmsheim. „Die Leute sind freundlich, was will ich mehr.“ Früher arbeitete er in einem Krankenhaus, auch seine libanesische Frau ist Ärztin. Die Ahmads und ihre drei Kinder hatten ein gutes Leben: Familie, Freunde, ein geregeltes Einkommen, Haus und Mercedes. Jetzt wohnt er in einem kleinen Einzimmerappartement, seine Familie wartet im Libanon.

Morgens treibt er eine Stunde lang Sport, geht laufen oder radelt durch die Weinberge. Dann studiert er. Er sitzt den ganzen Tag in seinem Zimmer. Er lernt Deutsch wie ein Besessener, er hört Radionachrichten, er liest, schlägt im Wörterbuch nach, ackert Grammatik, frisst sich nebenbei durch die deutsche Geschichte. „Das mache ich gerne“, sagt er. „Interessant.“

Er ist der erste Flüchtling in der Gemeinde. 6000 Euro kostete ihn die Reise über Syrien, Türkei, Griechenland, Italien, Frankreich und am Ende Saarbrücken. Er kam Ende Januar, danach ein weiterer Syrer, ein Ingenieur, sowie zwei junge Kurden.

Die Welle der Hilfsbereitschaft

Münster-Sarmsheim und seine Flüchtlinge, das ist eine außergewöhnliche Geschichte. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Siegfried Pick. Er ist Pfarrer in Bad Kreuznach, kümmert sich für die Kirche seit fast dreißig Jahren um Ausländer und berät die Landesregierung in Mainz. Die meisten Flüchtlinge seien eine Chance für Rheinland-Pfalz, sagt er. Denn auf den Dörfern fehlten zunehmend die jungen Leute. „Und es kommen ja keine Dummköpfe zu uns.“ Er hat schon alles gesehen und erlebt. Aber was im Moment im Landkreis passiert, sei neu: „Eine Welle der Hilfsbereitschaft, fast ein Tsunami. Das ist wirklich unglaublich.“

Münster-Sarmsheim war bei der Zuweisung von Flüchtlingen vergessen oder übersehen worden. Der Ort war dafür nicht vorgesehen, warum auch immer. Als einige Bürgern das merkten, taten sie sich zusammen, um die Sache zu ändern: Sie wollten Flüchtlinge aufnehmen.

Während also anderswo in Deutschland Bürgerinitiativen gegen Flüchtlingsunterkünfte aus dem Boden schießen; während seit Herbst 2014 in Dresden verängstigte Wutbürger jeden Montag Stimmung machen gegen Fremde und Flüchtlinge; während Landräte und Bürgermeister mancherorts nicht wissen, wo sie Flüchtlinge noch unterbringen sollen; während in Sachsen-Anhalt und Bayern Asylheime angezündet werden, um zu verhindern, dass Menschen einziehen – während all das in Deutschland geschieht, geht ein kleines Dorf an der Nahe einen anderen Weg. Und zwar, weil es seine Bürger so wollten. Keine Angst, kein Geschrei, keine Hetze. „Willkommen in Mü-Sa“, nennt sich das Vorhaben. Mü-Sa steht für Münster-Sarmsheim.

Es fing an im Wohnzimmer von Roland Beek. „Ich konnte die Nachrichten im Fernsehen nicht mehr ertragen“, sagt Beek. Er ist Umweltingenieur, arbeitet in Ingelheim. Seit zehn Jahren lebt er in Münster-Sarmsheim mit seiner Familie. Eigentlich kommt er aus Duisburg, ein Zugezogener, wie man sagt. Die Nachrichten waren voll von Bootsflüchtlingen aus Afrika, die im Mittelmeer ertrunken waren oder es gerade so schafften, sich nach Lampedusa zu retten. „Immer diese Bilder, diese Menschen. Und die Toten“, sagt Beek (50). Ende November fragte er nicht nur sich, sondern auch andere, warum kein Flüchtling bei ihnen sei. Damit begann alles.

Im nächsten Abschnitt lesen Sie, wie selbstbestimmt und anpackend die Menschen aus Münster-Sarmsheim mit der Frage nach Flüchtlingen im Ort umgegangen sind.

Münster-Sarmsheim, ein altes Straßendorf, schlängelt sich zwischen Fluss und Weinbergen dahin. 1549 Frauen, 1475 Männer leben hier, einige sind Winzer, die meisten arbeiten außerhalb. Es gibt eine Apotheke, zwei Hotels, zwei Pensionen, einen Bäcker, fünf Ärzte, zwei Kindergärten, eine Grundschule, mehrere Angelplätze, einen Sport- und Bouleplatz, eine Postagentur, eine Bank, vier Spielplätze.

Und das Besondere? „Die Leute hier“, sagt die Architektin Irmtraut Ehtechame. „Die kümmern sich.“ Man nehme die Dinge selbst in die Hand, statt zu warten, dass etwas passiert. Man warte nicht auf die Politik, nicht auf den Gemeinderat, nicht darauf, dass der Bürgermeister was sagt. So seien die Leute.

Irmtraut Ehtechame, 58, hat einen langen Tag hinter sich. Nun sitzt sie bei Roland Beek am Küchentisch und erzählt, wie man ist, wenn man aus Mü-Sa kommt. Im Nachbardorf Seibersbach, wo sie seit einigen Jahren mit Mann und Familie lebt, habe der letzte Lebensmitteldiscounter zugemacht. Also gründete sie vor fünf Jahren nebenbei noch ein neues Geschäft. Der Laden läuft, man beschäftigt mehrere Angestellte. So etwas geschieht, wenn Leute sich kümmern.

In Mü-Sa sei das ebenso. Was man auch daran sehe, dass fast alle im Dorf in einem Verein seien. Sie schaut Beek an. „Oder kennst du einen, der nicht in einem Verein ist?“ Handball, Fußball, Tischtennis, Musikverein, Orchester, Reiten, Feuerwehr, der Kerb-Verein, Männerchöre, Frauenchöre, Fördervereine für dies und das. Man macht was. Nirgendwo gebe es so viele Vereine wie in Rheinland-Pfalz, sagt sie. Kein Wunder, es war immer ein eher armes Land, Rüben und Reben, wenig Städte, viele Dörfer – ein bisschen wie Thüringen. „Hier ist wenig los, das müssen die Leute selbst übernehmen. Man will ja nicht versauern.“ Und die Hilfsbereitschaft, die Offenheit? „ Keine Ahnung“, sagt sie. „Vermutlich liegt es daran, dass vor 2000 Jahren schon die Römer in der Gegend waren. Vielleicht liegt es am Rhein, der immer eine Menge Menschen aus allen Himmelsrichtungen herbrachte. „Vielleicht liegt es auch am guten Wein.“

Pegida? Dügida? Kagida? Um Gottes Willen, so etwas gebe es in Rheinland-Pfalz nicht. In Mainz möglicherweise, aber sonst: nein. „Allein bei der Vorstellung, was sich montagabends in Dresden abspielt, sträuben sich mir die Nackenhaare“, sagt die Architektin. „Wie kann man denn so fremdenfeindlich sein? So abweisend? Man muss doch zuerst den Menschen sehen.“

Das große Dorfgespräch

Als die Münster-Sarmsheimer im November merkten, dass es keine Flüchtlinge im Dorf gibt, luden Beek und einige Gleichgesinnte ein zum großen Dorfgespräch: den Landkreis, den Bürgermeister, Schulen, Vereine, Kirchen, den Bad Kreuznacher Pfarrer Siegfried Pick, einen Rentner, der in den Nachbargemeinden erfolgreich als „Integrationslotse“ aushilft. Alle kamen. „Wir saßen einen Abend lang zusammen, und am Ende sagten wir: Ja, weiter. Wir sind eine Insel der Glückseligen, wir nehmen Flüchtlinge auf“, erzählt Beek. Niemand habe protestiert, niemand habe Widerspruch eingelegt. Es geschah einfach.

Beek und seine mittlerweile 30 Mitstreiter suchten nach Wohnungen. Und weil sich alle kennen, weil alle in Vereinen sind, weil sich alles herumspricht, fand man Lösungen. Nicht am Rand, keine Turnhalle oder leere Kaserne, sondern kleine Wohnungen mitten im Dorf. „Wir wollen doch keine Ghettos“, sagt Beek. „Ein Containerdorf mit 200 Leuten am Ortsausgang? Auf keinen Fall, nein danke. Klein, überschaubar, nah – nur so funktioniert es, wenn man Flüchtlinge aufnimmt.“

Doktor Ahmad sitzt wieder an seinem Schreibtisch. Es macht ihm nichts aus, stundenlang allein zu sein und zu lernen. „Ich tue das alles für meine Kinder“, sagt er. In den nächsten Tagen, hofft er, als Flüchtling anerkannt zu werden, danach kann auch seine Familie nach Deutschland kommen. Und dann geht es vielleicht weiter nach Detmold in Westfalen oder nach Paderborn, wo ein Freund seit Jahren Chefarzt eines Krankenhauses ist. Irgendwo als Arzt zu arbeiten, die Kinder zur Schule zu schicken und studieren zu lassen, vielleicht Musik – er träumt schon ein bisschen von seinem nächsten Leben.

Als er ein junger Mann war, Medizinstudent und Kommunist, und sich für Marx begeisterte, diesen bärtigen Mann aus Trier, wie er lachend erzählt, steckte man ihn in Syrien für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. In eine Zelle so groß wie seine Einzimmerwohnung in Mü-Sa. „Manchmal standen in dem Raum vierzig Personen“, erzählt er. Jetzt lernt er Deutsch wie ein Besessener, mitunter kommt eine Lehrerin und hilft ihm. Demnächst, in seinem neuen Leben, will er wieder ein Buch schreiben, diesmal über seine Jahre als Gefangener. Auf Deutsch, das hat er sich als Ziel gesetzt.

Ende des Monats wird wieder eine Wohnung frei in Münster-Sarmsheim. Im Elternhaus von Irmtraut Ehtechame. Ihre Mutter, 83, wohnt im Erdgeschoss, die Wohnung darüber, 90 bis 100 Quadratmeter, soll an die Gemeinde vermietet werden. Für Flüchtlinge. „Meine Mutter hätte am liebsten eine richtige Familie“, sagt die Architektin. „Egal, woher. Es soll nur wieder Leben in der Bude herrschen.“