Flucht aus Syrien, dem Irak und Afrika Flucht aus Syrien, dem Irak und Afrika : Wie Flüchtlinge illegal nach Deutschland kommen

Rosenheim - Der Wagen steht mit laufendem Motor am Autobahnkreuz, in einer Nische, im rechten Winkel zur Fahrbahn. Es ist früh am Morgen, die Dunkelheit hängt noch über der Landschaft. Das Fernlicht des Wagens ist eingeschaltet, es beleuchtet einen Ausschnitt der Straße. Die Fahrzeuge, die hier auf die Autobahn nach München biegen, kommen aus Österreich. Ein paar Meter fahren sie durchs Scheinwerferlicht.
Zwei Männer auf den Vordersitzen des parkenden Autos starren durch die Scheibe. Nur ein paar Sekunden sehen sie jedes der vorbeifahrenden Fahrzeuge: Autokennzeichen, Insassenzahl, Autozustand. Die Köpfe der beiden Männer drehen sich im Takt der Autos, manchmal wandern auch nur die Augen mit. Ein dunkelgrüner Kleinwagen fährt vorbei, ein wenig verbeult, die Scheibe beschlagen, ungarisches Nummernschild. Aber der Kleinwagen kommt aus Innsbruck, das ist nicht der direkte Weg von Ungarn.
Das Auto in der Parkbucht gibt jetzt Gas.
So könnte ein Krimi anfangen. Und in gewisser Weise ist es auch einer. Es gibt Polizisten, Ermittlungen, Fingerabdrücke, Strafanzeigen. Aber es geht nicht um Mord, es geht um Not. Um die einen, die fliehen vor Krieg, Verfolgung oder Armut. Um andere, die dabei helfen, aber auch Geschäfte machen. Es geht ums Durchkommen und ums Ankommen.
Tatsächlich geht es um die größte Flüchtlingswelle seit den frühen Neunzigerjahren. Der Krieg in Syrien macht sich bemerkbar, der IS-Terror im Irak, auch die unsichere Lage in vielen Ländern Afrikas. 156.000 Asyl-Erstanträge sind in Deutschland gestellt worden bis Ende 2014, das sind fast 50.000 mehr als 2013, mehr als doppelt so viele wie 2012 und mehr als sieben Mal so viele wie 2007, dem Jahr des Neubewerbertiefstands.
„Wo sind wir jetzt?“
Die meisten kommen über die österreichische Grenze, von Italien über den Brenner oder über den Balkan. Die Bundespolizei Rosenheim, zuständig für das 650 Kilometer lange Grenzgebiet von Salzburg bis Lindau am Bodensee, ist die Inspektion, die in Deutschland die höchste Zahl an Einreisen ohne Aufenthaltserlaubnis registriert. Etwa 9000 waren es 2014, das bedeutet eine Verdoppelung der Zahlen im Vergleich zum Jahr zuvor, gar eine Vervierfachung im Vergleich zu 2012. Vor ein paar Jahren noch hatten die Rosenheimer Beamten vor allem Drogenschmuggler im Visier.
Die Flüchtlinge überqueren in Autos, in Reisebussen und auch oft per Zug die Grenze. Nicht selten haben sie dann bereits eine Fahrt in einem vollen Boot übers Mittelmeer hinter sich. Sie haben also, wenn man das überhaupt sagen kann bei einer Flucht, schon einiges Glück gehabt, weil sie überlebt haben.
Und dann kommt in Deutschland ein Polizeibeamter, der ihr Auto aufhält. Oder der im Zug die Pässe kontrolliert. Wer mit dem Zug von Italien nach Deutschland fährt, kann oft ganze Gruppen von Flüchtlingen an Bahnhöfen stehen sehen, bewacht von Polizisten. Es ist ein beklemmendes Bild.
Aber so bedrückend ist es gar nicht, zumindest dann nicht, wenn man Rainer Scharf folgt, dem Pressesprecher der Bundespolizei. Rainer Scharf tritt ruhig und freundlich auf. Demnächst will er seine Doktorarbeit schreiben, auch dabei soll es um Öffentlichkeitsarbeit gehen. „Die Flüchtlinge sind oft froh, wenn sie hören, dass sie in Deutschland sind“, sagt Scharf. „Da entspannen sie sich.“
Im Eurocity 80 von Verona nach München zum Beispiel sitzen Maher und Mustafa. Zwei Beamte sind in Kufstein in den Wagen gestiegen, und nachdem der Zug die Grenze passiert hat, beginnen sie zu kontrollieren. Ein Abteil mit einer strickenden Oma; ein Abteil mit einem blonden Langhaarigen, der eine„Einführung in die Kristallographie“ liest. Keine Kontrolle.
Dann kommen sie in das Abteil, in dem Maher und Mustafa am Fenster sitzen – beide jung, beide dunkelhaarig. Eine kleine schwarze Tasche liegt auf der Gepäckablage. Die Beamtin bittet um die Pässe. Die beiden können kein Visum vorzeigen. „Sie dürfen so nicht einreisen“, sagt die Beamtin auf Englisch. „Wir sind Syrer. Wir suchen nur nach einem sicheren Ort“, antwortet Maher und fragt: „Wo sind wir jetzt?“ Draußen gleiten Wiesen und Bauernhäuser vorbei. „Bitte setzen Sie sich“, sagt die Beamtin zu zwei Afrikanern, die ihre Kollegen ebenfalls ins Abteil bringen. Zurückschicken dürfen die Bundespolizisten die Männer nicht. Also nehmen sie sie mit nach Rosenheim, das ist der erste Halt des Zuges in Deutschland. „Bitte folgen Sie mir“, sagt die Beamtin. Es gibt keine Debatte, keine Widerworte.
Fast täglich verschickt Rainer Scharf aus Rosenheim seit einigen Monaten sehr ähnliche Meldungen:
3. September: 100 Personen ohne Pass im Fernreisezug aus Italien, aus Srien, dem Irak, Eritrea, Somalia und Äthiopien.
7. September: 14 Syrer in einem Kleinbus mit neun Plätzen, zwei Siebenjährige im Kofferraum.
1. Oktober: 39 Personen in einem Eurocity aus Italien, vor allem aus Eritrea und Syrien.
11./12. Oktober: 150 Personen, die meisten per Zug. Aber auch ein Taxifahrer aus Ungarn mit Kokain im Blut und drei Syrern im Auto.
18. Oktober: Sechs Palästinenser ohne Pass und ein Schleuser in einem Auto auf der A96 bei Lindau, davon einer im Kofferraum.
20. Oktober. Acht Syrer zwischen 26 und 37 Jahren in einem Pkw auf der A8 bei Bad Aibling. Sieben Syrier zwischen elf und 51 Jahren in einem Mietwagen im Kreis Weilheim. Vier Männer, eine Frau und zwei Kinder aus Syrien in einem Kleinwagen bei Bad Feilnbach. Die Fahrer jeweils als Schlepper eingestuft.
„An die Hinterleute dieser Schlepper wollen wir ran“, sagt Scharf. Er kann lange über das Geschäft mit dem Flüchtlingstransport reden: über die Skrupellosigkeit der Schlepper, über schrottreife, überbesetzte Autos, über Wucherpreise. Er zeigt Fotos als Beleg, Bilder von Flüchtlingen in Kofferräumen und in Laderäumen von Transportern.
All diese Leute, die Schlepper, die Flüchtlinge, auch die beiden Syrer Maher und Mustafa aus dem Eurocity, werden in die Polizeiinspektion Rosenheim gebracht. Die Behörde ist in einer ehemaligen Kaserne angesiedelt, einem trutzigen Gebäude ausgerechnet aus Nazi-Zeiten, mit der Rosenheim einst zur Garnisonsstadt wurde. Nun sitzen in den Gebäuden hinter der Einlassschranke Polizeibeamte, die die Grenze überwachen. Hinten im Hof sind Dutzende konfiszierte Schleuserautos abgestellt, viele mit kleinen Dellen, etwa ein Fiat Seicento, der drei normale Reifen und ein Reserverad hat. Die meisten werden beim Schrotthändler landen.
Vor ein paar Monaten haben die Polizisten ihre Turnhalle zur Wartehalle umfunktioniert, weil der Raum in den eher kleinen Zimmern im Hauptgebäude nicht mehr für die Flüchtlinge ausreichte. Mittlerweile ist die Turnhalle wieder leer, dafür ist der ehemalige Fitnessraum im Keller nun voll belegt.
Im nächsten Abschnitt lesen Sie, wie die Flüchtlinge nach München kommen, um einen Asylantrag zu stellen.
Bei einer Kontrolle im Nachtzug aus Italien hatten mehr als dreißig Personen keine Pässe dabei, kein Visum oder gefälschte Dokumente. Sie sitzen nun auf Pritschen im Keller und warten. Unter ihnen ist Hussein Abdel aus Syrien, ein 17-Jähriger mit Kapuzenpulli. Libanon, Sudan, Libyen zählt er als Stationen auf. Dann habe er sich vor einem Monat aufgemacht, übers Meer. Er will nach Schweden, weil er dort Familie habe; Ingenieur wolle er gerne werden. Und wo sind die Eltern? Im Libanon geblieben, sagt er: „Aber da gibt es keine Zukunft.“
Die 24-jährige Khetam hat ihren lilafarbenen Schal und ihre graue Mütze nicht abgelegt. Vater, Bruder und Schwester sitzen gemeinsam in einer Ecke des Raums. Khetam, die gut englisch spricht, sagt, sie habe Architektur studiert. In Libyen habe sie acht Monate lang die Wohnung nicht verlassen aus Angst. „Das Boot war gefährlich, aber nicht so gefährlich wie das Bleiben.“
Neben ihr fragt der 17-jährige Omar: „Geben die uns unsere Pässe zurück? Und kommt meine Mutter wieder?“ Sie sind zusammen gekommen, übers Meer, durch Italien, im Zug nach Deutschland. Alles hat geklappt. Aber jetzt haben Beamte die Mutter geholt, und der Sohn hat Angst bekommen: „Wir wollen doch nach Norwegen. Und ich will nicht alleine bleiben“, sagt Omar. Familien, so sagt der Polizeisprecher, würden nicht getrennt.
Eine Nummer an der Wand
Die Mutter ist im Raum nebenan, dort wird sie durchsucht, auf Waffen, auf Drogen. Sie muss ihre Fingerkuppen auf kleine Scanner drücken, dann wird sie fotografiert. Mit Übersetzern versuchen die Beamten, Herkunft, Fluchtweg und mögliche Fluchthelfer zu ermitteln. Manchmal werden Mitarbeiter des Jugendamts bestellt, etwa wenn unklar ist, ob ein Flüchtling wirklich noch nicht 18 Jahre alt. Das ist die magische Grenze, für Jugendliche gelten mildere Aufnahmeregeln. Darüber, ob jemand aufgenommen oder zurückgeschickt wird, entscheidet nicht die Polizei; sie ist Durchgangsstation und Registratur.
Niemand kommt hierhin mit einem Termin. Für Übersicht sorgt ein Beamter, der seinen Schreibtisch im Gang aufgebaut hat. Auf einer Länge von mehreren Meter hängen große weiße Tafeln an den Wänden, mit Tabellen in grün, rot und blau. Mit abwischbarem Filzstift tragen Polizisten dort die Neuankömmlinge ein: Registrierungsnummer, Name, Besonderheiten wie einen gefälschten Pass. SOM-m-24 steht da zum Beispiel neben einer Nummer, Somalier, männlich, 24 Jahre alt.
Maher, der in Damaskus für einen großen Elektrokonzern gearbeitet hat und jetzt noch eine kleine schwarze Tasche mit einer Jacke besitzt, wird die Kombination SYR-m-29 bekommen. Hinter jedem Flüchtling folgen nach und nach mehrere Häkchen: Durchsuchung, Erfassung, Vernehmung. Fragezeichen stehen für Unklarheiten, zum Beispiel über das Herkunftsland . In einer Spalte ist per Eintrag das mitgebrachte Bargeld vermerkt. 500 Euro steht bei einem Flüchtling, 321 Dollar bei einem anderen, 67 Dollar und ein Euro bei einem Dritten. Bei vielen ist diese Spalte leer.
Ein Übersetzer steht im Gang und erzählt, auch ihm kämen ab und zu die Tränen, wenn die Flüchtlinge ihre Geschichten erzählen. Als Kind ist er aus dem Irak gekommen, er kann sich noch an die Bomben erinnern. Eine Beamtin sagt, es gehe ihr nahe, wenn sie Familien sehe, die nur mit einem kleinen Tagesrucksack oder einer Plastiktüte anreisten. „Man kann nicht alles an sich heranlassen. Der Job geht weiter“, befindet einer ihrer Kollegen. Viele Beamte klagen, es gebe zu wenig Personal, zu wenige Computer, zu wenige Telefone.
Auf dem Gang füllen sich die Tabellen an der Wand und leeren sich wieder. Wer alle Häkchen hat, wird weitergeschickt. Tatsächlich.
Vor der Tür der Polizeiinspektion halten regelmäßig Taxen. Sie bringen Flüchtlingsgruppen zum Bahnhof, zu Fuß ist es etwas weit. Den Fahrpreis, ein paar Euro, teilen sich die Flüchtlinge meist, einige besitzen ja noch Geld. Wenn sie am Bahnhof sind, haben sie auch einen Zettel in der Tasche mit der Adresse der Meldestelle in München, dort erst kann der Asylantrag gestellt werden. So werden auch Mustafa und Maher, die Syrer aus dem Nachmittagszug, am Abend weitergeschickt. Es gibt eine gute, regelmäßige Zugverbindung nach München, die Polizei begleitet nicht. Wer nach der Erst-Registrierung untertauche, mache sich verdächtig und habe dann wohl weniger Chancen auf Asyl, heißt es in Rosenheim.
Währenddessen haben die Kollegen am Autobahndreieck weiter die aus Süden kommenden Fahrzeuge im Blick. Der auffällige ungarische Wagen am Morgen muss an einer Parkbucht anhalten. Die Polizisten steigen aus, eine Hand auf der Pistole am Gürtel. Sie seien auf dem Weg zu einer Baustelle, sagt der Fahrer. Werkzeug und Koffer mit Kleidung liegen im Kofferraum. Die Papiere scheinen in Ordnung zu sein, das Nummernschild wird per Funk abgeglichen. „Ein schlüssiges Gesamtbild“, sagt einer der Beamten und winkt den Wagen weiter.
Sie werden an diesem Morgen noch einem verdächtigen Fahrzeug hinterherfahren, das sich als ziviles Polizeiauto entpuppt, einen neuen Mercedes mit Ausfuhrkennzeichen kontrollieren, der offenbar tatsächlich neu gekauft ist. Sie werden zwei bulgarische Kleinbusse mit Bauarbeitern aufhalten, im Kofferraum gebrauchte Bohrmaschinen, Billigschokolade und einen großen Schinken finden und die Männer weiterfahren lassen in den Weihnachtsurlaub. Am Vortag haben die beiden Beamten Kollegen geholfen: Ein paar Orte weiter hatte sich ein Stier auf ein Bahngleis gestellt.
Vielleicht haben sie dadurch ein paar Schleuser verpasst. Aber richtig leer geworden ist es dadurch nicht in der Rosenheimer Polizeiinspektion.
