EU-Beitrittsländer EU-Beitrittsländer: Litauen - Einwohner sehen sich als Mitteleuropäer

Vilnius/dpa. - «Litauer», so sagt Alfredas Bumblauskasbedächtigt, «uns Litauer kann man nur durch die Geschichteverstehen». Dann lacht der renommierte Geschichtsprofessor inVilnius: «Und übrigens sind wir meistens keine Autoschieber,Menschenhändler, Schmuggler.» Üblicherweise verstehen sich die 3,5Millionen Einwohner des baltischen Staats als stolze Mitteleuropäer,Vertreter einer toleranten Gesellschaft mit Vergangenheit.
«Das sieht hier ja aus wie in Italien», reiben sich Touristen imSommer verwundert die Augen. In der Hauptstadt Vilnius (Wilna)beherrschen Barock- und Gotikkirchen das Bild, mehr als 20 Kirchtürmeallein im historischen Zentrum. Statt Lenin-Statuen besetzen wiederMenschen die öffentliche Plätze: Punks, junge Manager, Pensionäre,Familien. Vor 13 Jahren rollten hier noch Panzer der Roten Armee, umden litauischen Unabhängigkeitskampf gewaltsam niederzuschlagen.
In die Europäische Union bringt die ehemalige Sowjetrepublik einStück auch heidnische Traditionen ein: Stolz feiert man quer durchdas Land Feste wie den Karneval-Kehraus als Winterende und dieMitsommernacht. Auf vielen Kirchtürmen lodert um das christlicheKreuz der Feuerkranz. Bis heute sind, übersetzt, Vornamen wie«Sonne», «Meer» oder einfach «Glück» weit verbreitet. Litauisch giltals älteste lebende indogermanische Sprache, eng verwandt mit demindischen Sanskrit.
Bis ins 14. Jahrhundert hatte Litauen selbst den deutschenKreuzrittern erfolgreich Widerstand geleistet. Erst als letzteEuropäer traten die Bauern und Krieger östlich der Nemuna (Memel)nach 1385 dem Christentum bei. Zuvor hatte Großfürst Gediminas durchden Anschluss weißrussischer und ukrainischer Fürstentümer kurzzeitigüber ein Staatsgebiet von der Ostsee bis ans Schwarze Meer regiert.«Im Herzen fühlen wir uns immer noch wie eine Großmacht», sagtHistoriker Bumblauskas, der häufig in Fernsehshows Geschichteunterhaltsam präsentiert.
«Wir nehmen gerne von jeder Kultur das, was uns am besten passt»,sagt Jurate, eine modern gekleidete Studentin. Mehrsprachigkeit istNormalität: Litauisch, Russisch und Polnisch lernen Kinder in denStädten beim Spielen auf der Straße. Englisch, Deutsch oderFranzösisch kommen neuerdings in den Schulen hinzu. Seit jehermischen sich Ost und West in Litauen, vor den Massakern des ZweitenWeltkriegs galt Vilnius wegen seiner großen und blühenden jüdischenGemeinde als «Jerusalem des Ostens».
Stolz sind die Litauer auf ihre Künstler. Bei Theater- undOpernpremieren ist es üblich, Glückwunschblumen mitzubringen. 2002stellte sich Litauen als Gastland der Frankfurter Buchmesse vor:modern, aufgeklärt, intellektuell. Gerne wird an die litauischenEmigranten George Maciunas und Jonas Mekas erinnert, die um 1960 dieneodadaistische Kunstbewegung Fluxus mitbegründeten. Oder anMikalojus Konstantinas Ciurlionis (1875-1911), der mitsymbolistischen Malereien und naturverbundenen Kompositionen wie wohlkein anderer die Befindlichkeit seines Volks künstlerisch ausgedrückthat und erst jetzt, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, seinen Platzin der Kunstgeschichte findet.
Aktuell geriet das Ostseeland allerdings wieder einmal durchangebliche kriminelle Verstrickungen in die Schlagzeilen. DasParlament in Vilnius leitete ein Amtsenthebungsverfahren gegenStaatspräsident Rolandas Paksas ein, dem die Abgeordneten Kontaktezur russischen Mafia vorwerfen. «Wie wir diese Angelegenheitbewältigen, wird zeigen, wie europäisch wir sind», lautet der Tenoreinheimischer Kommentatoren.
