Ertrunkener Junge - #KiyiyaVuranInsanlik Ertrunkener Junge - #KiyiyaVuranInsanlik: Aylan Kurdi, drei Jahre

Ein kleiner Junge liegt ertrunken am Strand des türkischen Badeorts Bodrum. Er trägt ein rotes T-Shirt, eine blaue Hose und Turnschuhe mit Klettverschluss. Das Bild ist von einer so herzzerreißenden Traurigkeit, dass sich viele Medien entschlossen haben, es mit Rücksicht auf die Würde des toten Kindes nicht zu veröffentlichen. Auch die Berliner Zeitung hat sich so entschieden. Selbst das offenbar kurz darauf entstandene Foto, das einen türkischen Polizisten zeigt, der den Jungen in seinen Armen birgt, ist schwer zu ertragen. Doch spiegelt sich in diesem einen Bild nicht nur die Hilflosigkeit, mit der Europa der Flüchtlingskatastrophe begegnet, sondern auch das furchtbare Schicksal der vielen, die in den vergangenen Wochen und Monaten im Mittelmeer ertrunken sind.
Es gibt immer wieder Fotos, die sich in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingraben. Das Bild von dem nackten Mädchen, das 1972 aus einer Napalm-Wolke im Vietnamkrieg flieht, ist so eines. Oder das des sterbenden Benno Ohnesorg nach der Anti-Schah-Demonstration 1967 in Berlin. Man weiß immer erst später, welches Motiv solch eine Wirkung hat. Seit Mittwoch sind nun Bilder in der Welt, die diese Kraft entfalten könnten, die zu Ikonen der Tragödie um die syrischen Flüchtlinge werden könnten.
Inzwischen ist auch der Name des Jungen bekannt: Aylan Kurdi. Er wurde drei Jahre alt. Seine Familie stammt aus der kurdisch-syrischen Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei, die im vergangenen Jahr von der Terrormiliz Islamischer Staat belagert und dabei fast völlig zerstört wurde. Zwar konnten kurdische Kämpfer Kobane im Januar wieder zurückerobern, doch gleicht die Stadt einem Trümmerfeld.
Verwandte in Kanada
Aylan Kurdi wurde geboren, als die Enklave Kobane bereits unter dem Versorgungsembargo seitens der Türkei und unter Angriffen islamistischer Milizen litt. Er ist ein Kriegskind, das davon träumte, einmal Fußballer zu werden. Als der IS Kobane im vergangenen Oktober angriff, flüchtete die Familie über die Grenze in die Türkei, die so viele Flüchtlinge wie kein anderes Land weltweit aufgenommen hat, darunter bisher mehr als zwei Millionen Syrer. Sie leben oft unter ärmlichsten Umständen, denn die Türkei ist längst an ihre Aufnahmegrenze gelangt.
Dort sahen die Kurdis ebenso wenig eine Zukunft für sich wie in ihrer zerstörten Heimat. Deshalb wollte die Familie nach Kanada weiter, wo Verwandte leben. Vater Kurdi, seine Frau Rehan, der dreijährige Aylan und der zwei Jahre ältere Galip hatten vergeblich versucht, ein Visum zu erhalten, sagte Abdullah Kurdis Schwester, die in Vancouver lebt, am Donnerstag.
Den Kurdis blieb nur der Weg über das Wasser. Insgesamt 23 Passagiere waren sie, Männer, Frauen, Kinder, als sie schließlich am Mittwochmorgen in der türkischen Stadt Bodrum zwei winzige, total überladene Boote bestiegen, um die nur knapp fünf Kilometer entfernte griechische Insel Kos zu erreichen. Die türkischen Schlepper nehmen 1000 Euro pro Person für die Überfahrt, Schwimmwesten sind in vielen Küstenorten ausverkauft. Wer das Geld für die Fahrt nicht aufbringen kann, borgt es sich. „Zehntausende Flüchtlinge strömen jetzt an die Mittelmeerküste, um die Passage nach Europa zu schaffen, bevor die Herbststürme einsetzen“, sagt der Journalist Özcan Sert vom Online-Nachrichtenmagazin T24, der die Flüchtlingsbewegungen über die Türkei seit den Achtzigerjahren beobachtet.
Das Boot mit den Kurdis sank kurz nach der Abfahrt. Vater Abdullah Kurdi berichtete am Donnerstag dem oppositionellen syrischen Radiosender Rosana FM unter Tränen von seinem Kampf, seine Familie vor dem Ertrinken zu retten. Hohe Wellen hätten das Boot zum Kentern gebracht, sagt er. „Ich half meinen beiden Söhnen und meiner Frau und versuchte mehr als eine Stunde lang, mich am gekenterten Boot festzuhalten.“ Nur die Hälfte der Menschen im Boot schaffte es zurück an Land. Mindestens elf tote Flüchtlinge hat die türkische Küstenwache geborgen. Von der Familie Kurdi überlebte nur Vater Abdullah.
Seine Schwester Tima Kurdi berichtete Journalisten, dass ihr Bruder nach seiner Rettung von Bodrum aus bei den Verwandten in Kanada angerufen habe. „Alles, was er sagte, war: Meine Frau und meine beiden Jungen sind tot.“
Tima Kurdi ist bereits vor 20 Jahren ausgewandert, in Vancouver arbeitet sie als Friseurin. Sie hatte wohl angeboten, für ihren Bruder und dessen Familie zu bürgen. Doch die kanadischen Behörden hatten sich nicht darauf eingelassen. Offenbar, weil die Kurdis beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR wegen fehlender Pässe nicht registriert waren – und die türkische Regierung ihnen keine Ausreisevisa ausstellte. Deshalb habe ihr Bruder mit seiner Familie die Flucht gewagt.
Im nächsten Abschnitt lesen Sie, aus welchen Gründen sich der leitende Krisenmanager von Human Rights Watch, Peter Bouckaert, dafür entschied, das Bild zu verbreiten.
Hilfsorganisationen schätzen, dass allein im August pro Tag rund 2000 Menschen versuchten, die relativ kurzen Meerpassagen zwischen dem türkischem Festland und den griechischen Inseln zu überwinden. Die türkische Küstenwache spricht von mehr als 40.000 Flüchtlingen, die sie in diesem Jahr bereits gerettet habe. Und doch werden derzeit fast täglich Leichen an die türkischen Strände gespült.
Bisher sind sie für die Öffentlichkeit zumeist unsichtbar geblieben, niemand kennt ihre Namen, keiner erzählt ihre Geschichte.
Diesmal aber ist es anders. Fast sämtliche türkische Tageszeitungen druckten am Donnerstag das Bild des toten Aylan auf ihren Titelseiten. „Die Welt muss sich schämen“, „Die Menschlichkeit weggespült“, so lauteten einige Schlagzeilen, die eindrücklichste lieferte das Boulevardblatt Posta: „Diese Welt sollte untergehen!“ In den sozialen Internetmedien des Landes wurde kein Thema häufiger behandelt als der Tod des Jungen am Strand. Tausende Male wurde das Foto von Aylan auf Twitter unter dem türkischen Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik geteilt – „die fortgespülte Menschlichkeit“.
Die türkische Fotografin Nilüfer Demir von der Nachrichtenagentur DHA hat die Bilder von Aylan Kurdi gemacht. Sie berichtete am Donnerstag, was bei ihr in dem Moment vor sich ging: „Als ich den dreijährigen Aylan Kurdi gesehen habe, gefror mir das Blut in den Adern. In dem Moment war nichts mehr zu machen. Er lag mit seinem roten T-Shirt und seinen blauen Shorts, halb bis zum Bauch hochgerutscht, leblos am Boden. Ich konnte nichts für ihn tun. Das einzige, was ich tun konnte, war, seinem Schrei – dem Schrei seines am Boden liegenden Körpers – Gehör zu verschaffen. Ich dachte, das könnte ich nur schaffen, indem ich den Abzug betätigte. Und in diesem Moment habe ich das Foto geschossen.“
Dafür, dass dieses Bild die Weltöffentlichkeit erreicht, sorgte nicht zuletzt auch Peter Bouckaert. Es ist Mittwochmittag, als er sich entschließt, das Foto mit dem toten Jungen auf Twitter zu teilen. Es ist eine folgenschwere Entscheidung, denn Peter Bouckaert ist nicht irgendwer in der Welt der Kriege, Krisen und Katastrophen und ihrer Widerspiegelung in den sozialen Netzwerken. Der Belgier ist der leitende Krisenmanager bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Allein bei Twitter folgen ihm über 25.000 Menschen. Wenn er ihnen eines seiner aufrüttelnden Fotos aus einem Krisengebiet schickt, sind sie in rasanter Geschwindigkeit weiterverbreitet und vervielfacht.
„Ich habe lange und hart nachgedacht, bevor ich das Bild weitergeleitet habe“, schreibt er auf der Webseite von HRW unter dem Titel: „Warum ich das schreckliche Foto eines ertrunkenen syrischen Kindes geteilt habe.“ Peter Bouckaert, 44, ist zur Zeit in Ungarn, wo er die Not der syrischen Kriegsflüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa dokumentiert, meistens mit eigenen Fotos.
Er war schon in vielen Krisengebieten unterwegs, zuletzt in der Zentralafrikanischen Republik. Auch von dort hat er drastische Bilder veröffentlicht, zum Beispiel von einem Gehängten, der gefoltert worden war, während französische Soldaten 15 Meter entfernt untätig herumgestanden hätten, wie er dazu schrieb. „Die Informationen, die ich poste, sind relevant für Journalisten, Menschenrechtler und Diplomaten “, sagte er in einem Interview der FAZ. „Wenn ich jetzt humanitäre Konferenzen der Vereinten Nationen besuche, werde ich von Leuten angesprochen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie lesen meine Beiträge auf Twitter.“
Er überbrückt mit seiner Arbeit auch die Ignoranz europäischer und US-amerikanischer Medien für Katastrophen zum Beispiel in Afrika. „Die Idee zur Kampagne in den sozialen Medien stammt aus der Nacht, in der Nelson Mandela starb, dem 5. Dezember 2013“, erzählt er. „Ich war mit einem Journalisten der BBC in Zentralafrika unterwegs, als wir in einen heftigen Schusswechsel gerieten. Wir konnten entkommen, haben die Geschichte fertigproduziert und uns schlafen gelegt. Nur erschien der Beitrag nie, weil sich niemand dafür interessierte.“ Seit dieser Zeit hat sich die Zahl seiner Follower verdoppelt.
Die Turnschuhe
Nun zeigt das Bild von Aylan Kurdi, wie trefflich Bouckaerts Methode funktioniert. Es hat ein mächtiges, Echo aus Empörung, Betroffenheit und Trauer ausgelöst. Dabei ist Bouckaert trotz seiner intensiven Konfrontation, seiner Arbeit mit dem Grauen offenbar weit davon entfernt abzustumpfen. Im Gegenteil, die Fotos des toten Aylan haben ihn sehr persönlich bewegt, wie er schreibt. „Seine kleinen Turnschuhe, die ihm seine Eltern sicher liebevoll für die gefährliche Reise angezogen haben, haben mich am stärksten getroffen. Einer meiner liebsten Momente am Morgen ist es, meinen Kindern beim Anziehen ihrer Schuhe zu helfen. Irgendetwas geht dabei immer schief, und wir haben unseren Spaß dabei. Als ich das Foto anstarrte, konnte ich nicht anders, als mir vorzustellen, es wäre einer meiner Söhne, der da ertrunken am Strand lag.“
Manche haben ihm und anderen Medien vorgeworfen, ein solches Foto zu veröffentlichen, sei anstößig. Solche Anwürfe machen ihn wütend, wie seine Antworten auf Twitter zeigen: „Ich finde es anstößig, dass ertrunkene Kinder an unseren Küsten angeschwemmt werden, wenn man mehr hätte tun können, um sie vor dem Tod zu bewahren“, schreibt er. Oder: „Bevor Ihr moralische Lektionen über das Veröffentlichen von Fotos erteilt, prüft doch einmal, was Ihr in den letzten vier Jahren getan habt, um syrische Flüchtlinge vor dem Sterben zu schützen.“ Es sei keine leichte Entscheidung für ihn gewesen, das schreckliche Bild zu teilen. „Aber mir sind diese Kinder so wichtig wie meine eigenen. Wenn die europäischen Politiker das genauso sähen, würden sie vielleicht versuchen, dieses entsetzliche Schauspiel zu stoppen.“
Für Abdullah Kurdi, der am Mittwoch im Mittelmeer an der Grenze zu Europa seine Familie verloren hat, ist die Flucht zu Ende. Er will seine Frau und die beiden Jungen jetzt in Kobane beerdigen.