Erich Honecker Erich Honecker: Der Herrscher der glaubte sein Land zu sein
Halle (Saale)/MZ. - Von seiner allerletzten Party kommt er in richtig aufgeräumter Stimmung nach Hause. „Es war so eine tolle Stimmung und die Leute haben gejubelt!“, freut sich Erich Honecker an jenem 7. Oktober 1989, der der letzte Geburtstag der Republik ist, die er wie kein anderer verkörpert. Honecker, der heute seinen 100. Geburtstag feiern würde, hatte nichts mitbekommen von Protesten, Prügeleien, Gorbi-Rufen. An diesem Abend in Wandlitz zumindest tut er so, als sei sein Glück wie immer das seines ganzen Landes.
„Du armer Mann, habe ich gedacht“, erinnert sich seine Haushälterin Ulrike Hainke später - eine Frau, die im Dienst des MfS stand, aber längst mitbekommen hatte, dass die DDR kaum mehr Zukunft hatte als Schnee Ende August.
Auch Erich Honecker, der Bergarbeitersohn aus Wiebelskirchen, muss es gewusst haben. Stasi hin, Stasi her, gefälschte Planabrechnungen und unterdrückte Kritik in Partei und Medien - allein die so genannten Eingaben aus der Bevölkerung, die täglich im Büro Honecker eingehen, zeigen ein ungeschminktes, brutal wahres Bild der Arbeiter- und Bauernrepublik, die im 40. Jahr ihrer Existenz an akuter inneren Auszehrung leidet.
Erich Honecker, schon mit 17 in der KPD organisiert, hat die verzweifelten Briefe gelesen, wie hingekrakelte Notizen am Rande verraten. „1987 einordnen“ steht da auf einem Brief des Magdeburgers Frank H., der sich über unzumutbare Wohnverhältnisse beklagt. Viele Bittschriften leitet Honecker so an die zuständigen Organe weiter - wer es bis auf seinen Schreibtisch geschafft hat, um den wird sich gekümmert.
Es ist ein quasi feudales System, das der erste und gleicheste unter den zwei Dutzend Mitgliedern des SED-Politbüros nach seinem kalten Putsch gegen Vorgänger Walter Ulbricht errichtet hat. Erich Honecker, nach dem Abschluss der 8. Klasse Knecht beim Bauern, Dachdeckerlehrling und schließlich Schüler der Internationalen Lenin-Schule in Moskau, ist das Maß aller Dinge. Wo der Generalsekretär und Staatschef sein „Einverstanden EH“ kritzelt, gibt es keinen Spielraum für Widerspruch mehr. Honecker regelt so die großen Fragen der Weltpolitik, aber auch die kleinen Probleme seiner Untertanen. Kommen Klagen über fehlende Damenunterwäsche, kann nur er helfen, ebenso auch, wenn ein Ungar eingebürgert werden will oder ein Sänger ausgebürgert werden soll.
Für jede unlösbare Frage, jedes trotzig vom Bürokratieapparat ausgesessene Problem gibt es in seinem Land eine allmächtige und nach eigener Anschauung unbestechliche Überinstanz. Den Partei- und Staatsführer selbst, der nach einem Frühstück aus zwei Brötchen mit Butter und Honig die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zum Staatsziel erklärt, nach einem Mittagessen aus „gegrillter Wurst mit Kartoffelpüree“ (Honecker) ein Auge auf die Brillenversorgung wirft und abends, ehe er zu Hause seine Feierabendbüchse DAB-Bier aufmacht, gemeinsam mit seinem Vertrauten Joachim Herrmann noch schnell die Reihenfolge der Meldungen in der „Aktuellen Kamera“ festlegt.
Das System, das sich Sozialismus nennt, ist ab Anfang der 80er in Wirklichkeit ein System Honecker. Der Kommunismus des früheren Jugendfunktionärs, der mit 23 im Gefängnis landet, mit 34 die FDJ gründet und mit 59 Ziehvater Ulbricht beerbt, ist der eines saarländischen Arbeiterkindes. Honeckers Vorstellung vom Glück heißt trocken wohnen, warm essen und Frieden haben. Seien diese drei Traumziele der Arbeiterbewegung erreicht, werde das Volk dankbar und glücklich sein, glaubt der Mann, der zweimal in der Woche auf den Heimtrainer steigt, um sich mit einer Sauerstoffkur nach Manfred von Ardennne fit zu machen.
Gefordert ist er täglich von halb neun bis nach 19 Uhr. Denn so viel ist zu tun, das er selbst machen muss: Das letzte Wort darüber, ob Sigmund Jähn oder Fliegerkosmonaut Eberhard Köllner mit der Sojus 31 ins All fliegt, spricht Honecker. Danach nickt er eine neue Tapetenkollektion aus dem VEB Verpackungsmittelwerk ab. Nichts ist zu klein für den nur 1,70 Meter großen Herren mit der Hornbrille Modell 10718, der von sich selbst glaubt, sein Land zu sein und für alle seine Bürger zu sprechen.
Doch so grenzenlos seine Macht scheint, so gering ist sie in Wirklichkeit. Honecker kann Anliegen klären, die Bürger an ihn herantragen, wie das des Zeitzers Holger M., der den „lieben Genossen Honecker“ anfleht: „Sie haben die Möglichkeit, sich von oben für mein Problem einzusetzen.“ Honecker hat. Honecker kann. Wie der Kapitän eines Seelenverkäufers hebt er Scheidungen auf, fällt er Todesurteile, besorgt er auch mal „devisenpflichtige West-Medikamente“. Es ist eine reine Willkürherrschaft, die sich selbst nur als „gerechtere Gesellschaft“ wahrnehmen kann, weil sie ihre tiefe innere Ungleichheit unter Bergen von fantastischen Parolen versteckt.
Aber immerhin sind die Honeckers kein Herrscherpaar, das wie die Ceaucescus im Pomp residiert. Dreißig Jahre leben Erich und Margot möbliert in Haus 11 des Politbüro-Ghettos bei Bernau. Ihre staatseigenen Möbel sind nur noch für den Sperrmüll gut, als das Paar Ende 1989 ausziehen muss. Abgesehen von Honeckers Vorliebe für „Seidensticker“-Hemden und Bogner-Anoraks aus dem Westen sticht allenfalls das Jagdhobby ins Auge, dem er wie seine Politbürokollegen in eigens vom MfS gepflegten Staatsjagdgebieten nachgeht.
Im Privaten genießt der erste Genosse seine Privilegien meist nur stellvertretend: Nachdem sich Enkel Roberto im Ostsee-Urlaub an einem steinigen Strand die Knie aufgeschlagen hat, veranlasst er, dass jeweils vor Beginn seiner Ferien ein Sandstrand angespült wird.
Dass er statt Dankbarkeit am Ende trotzdem nur Verachtung empfängt, kann Erich Honecker nicht verstehen. Das Ende seines Landes ist für ihn eine „Annexion durch die BRD“, die „Diskreditierung der führenden Repräsentanten der DDR“ Teil einer Verschwörung, in deren Verlauf die Sowjetunion ihren Verbündeten geopfert hat. Seine letzten Jahre verbringt der gestürzte, erkrankte und verfolgte Erich Honecker auf der Flucht und im chilenischen Exil. Er gibt sich unbelehrbar. Er tut ungebrochen. Und stirbt vermutlich dennoch in der schrecklichen Gewissheit, dass alles, alles ganz vergebens war.