DDR-Flüchtlinge DDR-Flüchtlinge: «Gießen war ein Synonym für Freiheit»

Gießen/dapd. - «Ich saß im Niemandsland der Grenze hinter einem Busch auf einer Holzbank. Dann kam ein Pkw, der blinkte», berichtet der 83-Jährige. Ein Unterhändler der DDR brachte politische Häftlinge an die Grenze, dievon der BRD freigekauft worden waren. Mit dem Bus fuhr Heinz Dörrsie dann nach Gießen ins Notaufnahmelager für Flüchtlinge aus derDDR. «Manchmal spielten sich rührende Szenen ab», berichtet Dörr.«Es kam zu Gefühlsausbrüchen im Bus. Viele fingen an zu weinen.»
20 Jahre seines Lebens war Heinz Dörr der Leiter des Lagers, dasin der DDR als «Synonym für Freiheit» galt. Heute ist dort dieHessische Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende aus aller Weltuntergebracht. Auf Gießens Bedeutung für die deutsch-deutscheGeschichte weist hier nichts mehr hin. Die Stadt möchte dies ändernund plant eine Gedenkstätte.
Zwtl.: Freie Unterkunft und Verpflegung
Bis zur Schließung des Lagers fanden hier 900.000 Flüchtlinge undÜbersiedler aus der DDR vorübergehend Unterschlupf. Die Mehrheitreiste mit dem Zug nach Gießen, die Ausreisegenehmigung der DDR inder Tasche «Am Bahnhof kamen die meisten an, über eine Brückegelangten sie zu uns und meldeten sich dann an der Pforte»,berichtet der Soziologe. Hier erhielten sie freie Unterkunft,Verpflegung, Kleidung und 15 Mark Taschengeld. Die DDR-Bürgermussten sich offiziell anmelden und einen Ausweis für die BRDbeantragen. Von Gießen aus ging die Reise für viele weiter in dasgesamte Bundesgebiet.
Gegründet wurde das Lager bereits 1946 zur Aufnahme vonHeimatvertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten. Im August 1949wurde es zum zentralen Aufnahmelager in der US-Besatzungszone fürFlüchtlinge aus der sowjetischen Zone, ein Jahr später erhielt esden Namen «Notaufnahmelager». Nun war die Einrichtung auch für ganzWestdeutschland zuständig. Zwei Jahre nach dem Mauerbau 1961 war dasLager das einzige in der Bundesrepublik, das Flüchtlinge undÜbersiedler aus der DDR aufnahm. 1986 folgte die Umbenennung in«Zentrale Aufnahmestelle des Landes Hessen».
Zwtl.: Forschungsprojekt zum Notaufnahmelager
Die Stadt will den eigenen Beitrag zur deutsch-deutschenGeschichte nun würdigen. In Zusammenarbeit mit Historikern derUniversität soll bis 2014 eine Gedenkstätte geschaffen werden, umauf angemessene Weise an diesen Ort zu erinnern, sagt eineStadtsprecherin.
Die Historikerin Jeanette van Laak bereitet aktuell einForschungsprojekt zum Notaufnahmelager vor, in dem sie auch dieKontakte zwischen Flüchtlingen und Menschen aus Gießen untersuchenmöchte. «So ein Flüchtlingslager vor den Stadttoren prägt den Umgangeiner Stadt und ihrer Bürger mit- und untereinander», sagt sie.«Wenn Sie heute in Gießen nach dem Notaufnahmelager fragen, erhaltensie meist als erstes zur Antwort: 'Das war eine Einrichtung desBundes. Damit hatten wir nichts zu tun!' Hier stimmt nur der ersteSatz. Wenn man dann nämlich nachfragt, erfährt man, was so alleserzählt wurde, über die anderen Deutschen.»
Zwtl.: Nach dem Mauerfall wurde improvisiert
1989 nach dem Fall der Mauer geriet für einen Moment auch Gießenin den Mittelpunkt des Weltgeschehens. «Wir hatten Fernsehteams ausder ganzen Welt hier. Ein Reporter aus Italien hat sich darübergewundert, wie diszipliniert die vielen Menschen in einer Schlangestanden», erinnert sich Dörr. Über 2.500 Menschen kamen in den Tagennach dem Mauerfall in Gießen an. 120.000 waren es im gesamtenWendejahr, 23.000 allein im November.
Auf den Zufahrtswegen zum Lager habe sich ein Trabant an dennächsten gereiht, auch die Wiesen an der Lahn seien voll geparkt mitAutos gewesen. Um im Lager mit dem großen Menschenansturm fertig zuwerden, musste enorm improvisiert werden. «Aus Zweibettzimmern habenwir dann Vierbettzimmer gemacht», berichtet Dörr.
Noch heute erinnert er sich gerne an seine Zeit als Leiter desLagers. Im Arbeitszimmer in seinem Haus im Gießener Norden hängt einVerdienstorden, unterschrieben vom ehemaligen BundespräsidentenRichard von Weizsäcker, daneben ein Ehrenbrief des Landes Hessen. Am31. Juni 1990 ist Heinz Dörr in den Ruhestand verabschiedet worden.Im selben Monat wurde die Zentrale Aufnahmestelle in Gießengeschlossen. Das Ende seines Arbeitslebens war gleichzeitig das Endeeines Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte.
