Abschied vom Bundestag Christian Ströbele verabschiedet sich aus dem Bundestag: Einer, der sich hingibt

Berlin - Er könnte sich mitten ins Leben stürzen – ins Sommerfest der Parlamentarischen Gesellschaft. In dem kleinen Garten gegenüber vom Reichstag haben sie Zelte aufgebaut. Es gibt alkoholische Getränke und Musik. Das Wetter ist herrlich. Doch Hans-Christian Ströbele – der von seinem Damenfahrrad abgestiegen ist, um dem Reporter zu antworten – will nicht. „Da würde ich nur hingehen, um mir das Essenmachen zu sparen“, sagt er und schaut vergnügt. Alkohol meidet Ströbele ohnehin.
Die Welt hat sich verändert
Es ist 20.30 Uhr, Donnerstagabend der vergangenen Woche. Während die meisten Parlamentarier längst in den Feierabend entschwunden sind, ist der grüne Bundestagsabgeordnete wieder in den Bundestag geeilt. Es geht darum, seinem Fraktionskollegen Volker Beck während dessen Abschiedsrede die Reverenz zu erweisen. Thema ist die Rehabilitierung Homosexueller durch den einst berüchtigten Paragrafen 175. Ströbele sitzt in Reihe vier, neben sich die schwarze Aktentasche und den Gehstock mit dem vergoldeten Knauf – in sich versunken. Es geht aber auch um die Sache. Noch bis in die 80er Jahre hinein seien Schwule und Lesben im Hohen Haus ausgegrenzt worden, sagt der erst kürzlich 78 gewordene. Jetzt stellt das gleiche Hohe Haus fest, dass ihnen Unrecht geschah. „Solche Erlebnisse habe ich immer wieder: Die Welt und die Gesellschaft haben sich verändert. Und dazu haben wir beigetragen. Ich auch.“ Wir – das sind die 68er.
Zweimal saß Ströbele im Bundestag. 1985 war Premiere. Der APO-Anwalt blieb bis 1987. Seinerzeit wurde bei den Grünen noch rotiert. 1998 wurde er ein zweites Mal gewählt und dann stets aufs Neue, zuletzt direkt im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg, was einer Sensation glich. Am Freitag endet die letzte Sitzungswoche. Für Ströbele ist dann endgültig Schluss.
Ströbele und Kohl
Die Abschiedstour beginnt beim Grünen-Parteitag. Da meldet sich der Haudegen in der Generaldebatte zu Wort. Als er im Berliner Velodrom von rechts kommend die lange Bühne abschreitet, brandet Applaus auf. Die Leute erheben sich von ihren Sitzen. Sie merken, dass es sich um einen emotionalen, wenn nicht gar einen historischen Moment handelt. Die Situation wird aufgeladen dadurch, dass kurz vorher die Nachricht vom Tod Helmut Kohls bekannt geworden ist, dem Ströbele im Parteispenden-Untersuchungsausschusses gegenüber saß. Beide haben nicht denselben Rang erklommen. Doch beide sind Geschichte geworden.
Ströbele hat der CDU-Spendenaffäre eine Wendung gegeben, als er dem heutigen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Behauptung entlockte, von dem Waffenhändler Karl-Heinz Schreiber kein Bargeld in einem Koffer bekommen zu haben. Die Behauptung war falsch. Ströbele war es auch, der die rot-grüne Koalition mit seiner Drohung eines Nein zum Afghanistan-Einsatz an den Rand des Scheiterns brachte – und der den einstigen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden in Russland aufsuchte.
Als Ströbele am Redner-Pult eintrifft und der Applaus seinen Zenit erreicht, reagiert er stumm, ja fast verärgert. Der Mann will nicht auf dem Wege des Abschieds entsorgt werden. Er will sich einmischen und fordert, dass die Grünen beim Thema Krieg und Frieden konsequent bleiben müssten. Als die realpolitischen Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir hinzutreten, um ihm, dem Linken, die Ehre zu erweisen, schlägt dieser Haken wie ein Kaninchen und verschwindet hinter der großen Wand, die die Bühne nach hinten begrenzt. Seine Rührung sollen sie nicht sehen.
Erst Marmelade, dann Interview
24 Stunden später ist Ströbele erneut da. Es ist immer noch Parteitag. Seine Parteifreunde Irene Mihalic und Konstantin von Notz haben ein Konzept präsentiert, das eine Zentralisierung des Verfassungsschutzes vorsieht. Mihalic und von Notz, halb so alt wie Ströbele, gehört die Zukunft. Doch heute Abend bringt ihnen ein Vertreter der Vergangenheit eine Niederlage bei. Denn Ströbele findet beim Inlandsgeheimdienst wenig, was überhaupt bewahrenswert wäre. Schon gar nicht soll der Dienst mehr Macht bekommen, als er sowieso längst hat. Ströbele gewinnt die Abstimmung und freut sich. Er hat Kraft. Darauf kommt es an. Und auf die Sache, natürlich.
Schließlich folgt der Mittwoch vergangener Woche. Als Ströbele von dem Plan, ihn zu begleiten, erfährt, fragt er listig: „Sie wollen meine Tasche tragen?“ Sein Pensum, das weiß er, hat es in sich.
Der alte Mann von 63 Kilogramm auf 1,85 Meter, ehedem waren es 80 Kilo, steht um kurz nach sieben auf. Es folgen das Frühstück – gern Quark und selbst gemachte Marmelade – und an diesem Tag ein Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Um neun Uhr kommt der Rechtsausschuss, gefolgt vom Auswärtigen Ausschuss mit Minister Sigmar Gabriel als Gast. Als wir das Gebäude verlassen wollen, stellen sich uns zwei junge Praktikanten in den Weg. Sie möchten ein Foto. „Die Selfies sind mein großes Leid“, sagt Ströbele. Allein beim Parteitag haben sie ihm wohl 100 abverlangt. Anschließend schwingt er sich aufs Rad, um zum Büro zu fahren. Die Entfernung vom Paul-Löbe-Haus beträgt vielleicht einen Kilometer.
Zu Fuß sieht Ströbele manchmal ziemlich gebrechlich aus. Eine Prostata-Operation hat er zwar gut überstanden. Doch da ist ein Nervenleiden in den Beinen, das auch die Muskeln schwächer werden lässt. Darum trägt Ströbele Barfuß-Schuhe mit extra dünner Sohle. Auf dem Fahrrad jedoch wirkt derselbe Ströbele wieselflink. Er schnallt den Gehstock der Länge nach auf den Gepäckträger, fährt die Spree entlang und von dort rechts in die Wilhelmstraße. Als die Ampel an der Kreuzung zur Dorotheenstraße auf Rot geschaltet ist, macht es der Grüne wie viele Radler in Berlin: Er rollt auf den Fußgängerüberweg und danach entgegen der Fahrtrichtung auf dem Bürgersteig. Die drei Stockwerke bis zum Büro läuft Ströbele, statt den Aufzug zu nehmen. Er will die Muskeln stärken. Richtig essen tut er bloß abends. Keine Zeit. Zwischendurch Süßes und Milch.
Im Büro warten sie schon. Zwei Mitarbeiter, die Ströbele fraglos duzen, bereiten die nächsten Sitzungen vor. Man sieht endlos viele Aktenordner, Wahlplakate mit Ströbele-Konterfei – und ein paar Umzugskisten. Sieben Angestellte hat der Abgeordnete derzeit, ein kleines Unternehmen. Zuletzt hat der Chef in seinem Zimmer überdies eine Maus gesichtet. Nach einer dreiviertel Stunde gehen wir die Treppe wieder hinunter. Ströbele schwingt sich abermals in den Sattel. Als wir die Pforte passieren, grüßt er den uniformierten Mann hinter der Scheibe und ruft: „Ich habe schon manchen Pförtner überlebt.“
Zunächst geht Ströbele ins Plenum – zur Fragestunde mit Vertretern der Bundesregierung. Als wir das Reichstagsgebäude betreten, öffnen sie für den Routinier eine große Glastür, die sonst meist verschlossen bleibt, um ihm den Weg zu verkürzen. Die Saaldienerinnen schauen achtungsvoll. Der Respekt ist überall spürbar. Nach dem Plenum ist da die Experten-Anhörung im Rechtsausschuss – über Strafverschärfungen bei Einbrüchen. Ströbele meldet sich zweimal. Zwischendurch wirkt er wie so oft: introvertiert. Die Anhörung wird abgelöst von der letzten Sitzung des NSA-Untersuchungsausschusses. Während einer Sitzungsunterbrechung versammeln sich Abgeordnete von Linken und Grünen samt einiger Mitarbeiter auf dem Gang. Alles zentriert sich um von Notz, der größer und kräftiger ist.
Zu spät
Der Senior steht am Rand. Doch ist er da. Irgendwann ertönt die laute Klingel, die alle Abgeordneten zu einer namentlichen Abstimmung in den Reichstag ruft. Die Linke Martina Renner, von Notz und Ströbele gehen durch den Tunnel ins Nachbargebäude. Ströbele hat Mühe. Aber er hält Schritt. Nach der Abstimmung wird die NSA-Sitzung fortgesetzt. Es habe „Geschrei“ gegeben, heißt es hinterher – Geschrei wegen des Sondervotums der Opposition zum Abhörskandal. Eigentlich will Ströbele zu guter Letzt zur Experten-Anhörung über Strafverschärfungen für Raser. „Ja, klar“, sagt er. „Das ist wichtig.“ Aber die Anhörung hat bereits um 18 Uhr begonnen. Jetzt ist es 19.15 Uhr. Zu spät. Das lohnt sich nicht mehr.
Brombeeren im Odenwald
Immerhin ergibt sich zwischen den Sitzungen die Gelegenheit, zu erörtern, was Ströbele tut, wenn er mal nicht Politik macht. Dann sammelt der Jurist Brombeeren im Odenwald, wo er seit Jahrzehnten eine kleine Hütte hat. 40 Gläser Brombeer-Marmelade kocht Ströbele ein – und isst sie überwiegend selbst. Gelegentlich backt er auch Pflaumenkuchen, so wie die Kanzlerin, und zu Weihnachten Christstollen. Es zeigt sich hier eine weiche Seite mit starkem Kontrast zum harten Polit-Business.
Ob er mal Menschen richtig verachtet hat? Nein, sagt Ströbele. Als Anwalt habe er gelernt, dass Menschen komplex seien. „Auch Kohl hatte Qualitäten und Sachen, die gut waren.“ Zu Leuten, die ihn enttäuscht haben, wie der in den Rechtsextremismus abgedriftete ehemalige Anwalts-Kollege Horst Mahler, gibt Ströbele zu Protokoll: „Dazu sach ich Ihnen nix.“ Wenn er eine Art Verachtung empfindet, dann vielleicht für Abgeordnete, die nicht zum Arbeiten, sondern zum Schaulaufen oder zum Karrieremachen ins Regierungsviertel gekommen sind. Dafür hat der Widerständige mit dem preußischen Fleiß nichts übrig. Bestimmt hat ihm seine Hingabe so viel Zuneigung eingetragen wie seine Gesinnung. Das Publikum will das Echte. Und das Echte hat es gekriegt.
Ströbele will weiter zum Parteitag
Am Donnerstag treffen wir uns noch einmal vorm Reichstag – Ströbele, in Hemd und Sakko vom Vortag und aus dem Fahrradsattel in den Stand gekommen. Ob er wehmütig sei, will ich wissen. „Ich komme gar nicht dazu, wehmütig zu werden. Vielleicht kommt das im Herbst. Mal gucken.“ Und die Sinnfrage bei all der Plackerei? „Welche Sinnfrage? Ich bin ja hier nicht, weil ich den Job brauche oder das Geld. Sondern ich bin hier, weil ich eine Aufgabe habe. Die habe ich weiterhin.“ Zum nächsten Parteitag will er wieder anreisen. „Warum eigentlich nicht? Es steht nirgends geschrieben, dass man nicht mehr zum Parteitag kommen darf, wenn man kein Abgeordneter mehr ist.“
Dann dreht Ströbele um und fährt am Leben der anderen in der Parlamentarischen Gesellschaft vorbei ins Büro. Es ist halb neun Uhr abends und taghell. Die Sonne scheint. Er könnte jetzt eine Apfelschorle trinken. Oder ein Eis essen. „Ich bin spät dran“, sagt der Scheidende stattdessen.
Er sagt es wie einer, der sein Glück gefunden hat.
