Überblick Chemnitz: Vom tödlichen Streit bis zum rechten Aufmarsch - Die Ereignisse im Überblick
Chemnitz - Ein friedliches Fest sollte es werden, eine riesige Geburtstagsfeier, 875 Jahre Chemnitz. So hatte es sich nicht nur die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) erhofft. Doch dann kam alles ganz anders: „Wenn ich sehe, was sich am Sonntag hier entwickelt hat, dann bin ich entsetzt“, sagte Ludwig. „Schlimm.“
Das Fest musste abgebrochen werden, um Schlimmeres zu verhindern, nachdem ein Mann in einem Streit gewaltsam zu Tode gekommen war. Am Sonntag zogen Hunderte mutmaßliche Rechte durch die Innenstadt. Es gibt Videoaufnahmen, die zeigen, wie sie offenbar gezielt Ausländer angriffen. Rufe sind zu hören wie bei Pegida-Versammlungen in Dresden: „Wir sind das Volk“ und „Deutsch, sozial, national“.
Die Erschütterung über die Vorfälle erreichte am Montag auch Berlin. In ungewöhnlich scharfen Worten verurteilte Regierungssprecher Steffen Seibert die Ereignisse. „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin“, sagte Seibert. „In Deutschland ist kein Platz für Selbstjustiz, für Gruppen, die auf den Straßen Hass verbreiten wollen, für Intoleranz und für Extremismus.“
35-Jähriger nach Streit getötet
Das Unheil hatte am frühen Sonntagmorgen in der Chemnitzer Innenstadt begonnen: Gegen 3.15 Uhr stritten sich nach Polizeiangaben mehrere Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, die Sache eskalierte, am Ende waren zwei Männer schwer verletzt und einer, ein 35-Jähriger, tot. Gestorben an seinen schweren Verletzungen. Laut Polizei waren die Opfer Deutsche. Bei dem Toten handelt es sich offenbar um einen Deutsch-Kubaner, einen jungen Familienvater, von Beruf Tischler.
Mehrere Männer seien nach dem Streit geflüchtet, zwei habe die Polizei festgenommen. Am Montag wurden Haftbefehle gegen einen 23-jähriger Syrer und einen 22 Jahre alter Iraker erlassen. Sie sollen mehrfach auf den 35-jährigen Mann eingestochen haben, die Ermittlungen dauern an.
Rechte rufen zu spontaner Kundgebung auf
Nach der Tat gab es in den sogenannten sozialen Netzwerken kein Halten mehr. Gerüchte machten die Runde, eine Frau sei sexuell belästigt worden, von einem weiteren Toten war die Rede. Die Polizei widersprach. Es gab Aufrufe von rechtsextremen Hooligans aus dem Umfeld des Chemnitzer FC zu spontanen Kundgebungen. Am späten Sonntagnachmittag standen 800 Leute beim Karl-Marx-Denkmal und zogen dann durch die Innenstadt. Polizisten wurden mit Flaschen beworfen.
Für die sächsische Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz ist das rasche Aufflammen von Wut und Gewalt kein Wunder. Die Linken-Abgeordnete setzt sich seit Jahren mit Rechtsextremismus und Gewalt in Sachsen auseinander. „Die Leute haben das Gefühl: Von oben gibt es keine Hilfe, man muss selber tätig werden“, sagte sie im Gespräch mit dieser Zeitung. „Also marschieren sie los.“
„Und zack geht es rund“
Und das gehe eben heute alles ganz schnell: „Etwas passiert, einer bekommt es mit, man ist vernetzt, einer startet eine Aufruf, es wird mobilisiert und zack geht es rund“, sagt sie. So sei es vor Jahren in Heidenau, Freital oder Dresden auch gewesen. „Nichts Neues.“
Das Vorgehen von Gewaltbereiten und Gewalttätern sei „unerträglich“, sagte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) im ARD-Mittagsmagazin. „Wir haben Spekulationen, wir haben Mutmaßungen, wir haben Falschmeldungen und regelrechte Lügen im Netz", sagte Wöller. „Ich kann uns alle nur bitten, besonnen zu bleiben, ruhig zu bleiben und den Fall entlang der Tatsachen abzuarbeiten und dann entsprechende Konsequenzen zu ziehen."
Sachsens SPD-Chef und Wirtschaftsminister Martin Dulig verurteilte am Montag Selbstjustiz und Gerüchtemacherei. „Das Gewaltmonopol liegt beim Staat und nicht bei denjenigen, die meinen, auf der Straße Selbstjustiz walten lassen zu müssen.“
Ähnlich äußerten sich am Montag auch in Berlin Politiker von SPD, Linken und Grünen. „Diese Vorgänge dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben. Selbstjustiz darf es nicht geben“, sagte Lars Klingbeil, SPD-Generalsekretär. Auch die Linken-Chefin Katja Kipping verurteilte jede Form von Selbstjustiz. Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionschef der Grünen im Bundestag, bezeichnete es als empörend, dass in Chemnitz Hunderte von Menschen durch die Straßen zögen und tatsächliche und vermeintliche „Nichtdeutsche“ angriffen. „Dass AfD-Politiker so etwas befeuern, sagt viel über das Verhältnis der Partei zum Rechtsstaat.“
Von Notz spielte damit auf eine Äußerung des AfD-Bundestagsabgeordneten Markus Frohnmaier vom Sonntag auf Twitter an. „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach!“, schrieb Frohnmaier, der zum rechten Flügel der AfD gehört. Es sei „Bürgerpflicht, die todbringende ‚Messermigration‘ zu stoppen.“
AfD-Mitglieder distanzieren sich von Frohnmaier
Drei Mitglieder seiner Fraktion aus Sachsen verurteilten die Gewalt am Montag im Bundestag in Berlin, zeigten aber viel Verständnis für „die Wut und Verzweiflung“ der Bürger angesichts der sich angeblich ständig verschlechternden Sicherheitslage. Der frühere Richter Jens Maier, ebenfalls rechtsaußen stehend, distanzierte sich von dem Tweet Frohnmaiers. Er halte ihn für „unklug“, so Maier. Welche Konsequenzen Frohnmaier ziehe, müsse dieser aber selbst entscheiden.
Rechte rufen erneut zu Kundgebungen auf
Die Stadt Chemnitz kam auch am Montag nicht zur Ruhe. Für den Abend riefen zahlreiche Gruppen zu Kundgebungen auf. Darunter, so Kerstin Köditz, auch eine Gruppe „Heimat und Tradition Chemnitz“, das rechtspopuläre Bündnis „Pro Chemnitz“, Identitäre und „Hooligans von Sachsen-Anhalt bis Dortmund“. Das Bündnis „Chemnitz nazifrei“ rief zur gleichen Zeit zum Protest „gegen rechte Hetze und Instrumentalisierung“ auf. Die Polizei, die am Sonntag zunächst nur mit 50 Beamten am Ort des Geschehens war, wollte am Montag mit „starken Kräften“ für Ruhe sorgen.