Bildungsforscher Klaus Klemm Bildungsforscher Klaus Klemm: "Wir erleben wilde Inklusion"
Köln - Klaus Klemm ist Bildungsforscher und Mitglied der Unesco-Arbeitsgruppe "Inklusion". Für NRW erstellte er ein Gutachten über Inklusions-Kosten.
Herr Klemm, wie steht Deutschland bei der Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderungen da - gibt es zwischen den Bundesländern große Unterschiede?
KLAUS KLEMM: Da gibt es tatsächlich extreme Schwankungen. Sowohl bei der Quote der Kinder mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf als auch beim Anteil dieser Kinder, die in allgemeinen Schulen und nicht mehr in Förderschulen lernen.
Zwischen welchen Extremen bewegt sich das denn?
KLEMM: In Deutschland wurden 2012/13 bei 6,6 Prozent aller Schüler ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Den Spitzenwert gibt es in Mecklenburg-Vorpommern, da sind es 10,1 Prozent. Und den niedrigsten Wert gibt es in Niedersachsen, da sind es nur 5,0 Prozent. NRW liegt bei 6,8 - also ganz leicht oberhalb des deutschen Durchschnitts.
Wie kommen solche großen Unterschiede zustande?
KLEMM: Diese Frage kann Ihnen im Grunde keiner beantworten. Grundsätzlich wird bei Kindern sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert, bei denen man davon ausgeht, dass sie nicht die Voraussetzungen haben, am allgemeinen Schulunterricht teilzunehmen. Das ist aber eine sehr breite Definition, und da haben wir eben unterschiedliche Kulturen.
Ist da eine gewisse Willkür im Spiel?
KLEMM: Die Diagnoseverfahren sind für mich nicht belastbar. Zumindest im Bereich "Lernen" und "Emotionale und soziale Entwicklung" ist sehr viel Spielraum - man kann auch sagen, sehr viel Willkür.
Wie erleben Sie die Umsetzung der Inklusion in den Schulen?
KLEMM: Deutschland hat ja 2009 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Und in dem Moment hat die Konvention den Status eines Bundesgesetzes. Seitdem erleben wir etwas, das ich etwas flapsig "wilde Inklusion" nenne. Weil die Eltern zunehmend mitbekommen, dass sie ihr behindertes Kind auch auf einer Grundschule ihrer Wahl anmelden können. Und das tun immer mehr, auch ohne dass ein Landesrecht existiert. Die Kommunen akzeptieren das, weil sie wissen, dass die Eltern auch ohne Landesrecht klagen können.
Gibt es Bundesländer, die schon einen Schritt weiter sind als andere?
KLEMM: Es gibt riesige Spannweiten. 28,1 Prozent der Schüler mit Förderbedarf wurden in Deutschland im Schuljahr 2012/13 inklusiv unterrichtet. In Bremen gehen 63 Prozent dieser Kinder in allgemeine Schulen. Gefolgt von Schleswig Holstein, da gehen 57,5 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeine Schulen. In NRW sind es 24 Prozent, das Schlusslicht ist Niedersachsen mit 14,7 Prozent.
Wie kommt das?
KLEMM: Einige Länder haben sich schon vor dem Beitritt zur UN-Konvention 2009 sehr engagiert. Vor allem Stadtstaaten haben sehr früh mit dem gemeinsamen oder integrativen Unterricht angefangen, wie es damals noch hieß. Und die haben also eine ältere Tradition. Das begann irgendwann Anfang der 90er Jahre in Berlin. Bremen hatte beispielsweise schon 2008/9 39 Prozent Inklusionsanteile. Hier in NRW haben Städte wie Bonn sehr früh angefangen.
Kann man von diesen Erfahrungen lernen?
KLEMM: Lernen kann man insofern nicht, weil man nicht im Schnelldurchlauf die langsam sich aufbauende Erfahrung nachholen kann. So etwas kann ein Land wie Niedersachsen nicht im Eiltempo wiederholen. Länder, die früh angefangen haben, haben einfach den Vorteil, dass sie an vielen Schulen schon erfahrene Lehrer haben. Und dass Inklusion in der Gesellschaft akzeptiert ist. Das muss man in anderen Bundesländern jetzt mühsam aufbauen.