Belgien Belgien: «Schreckliches, abermals Schreckliches»

Ypern/dpa. - Manche der 2702 Gräber tragen Namen:J.W. Rose, S. Berwick, W.F. Holter. Andere erinnern an unbekanntejunge Männer aus aller Welt: «Ein Soldat des Großen Kriegs» oder «Einneuseeländischer Soldat des Großen Kriegs». Ein Mahnmal mitten in derStadt, stete Erinnerung an die Schrecken des Ersten Weltkriegs - undeine Art Alltag für die Schüler von der anderen Straßenseite.
Ungewohnt wirken die allgegenwärtigen Spuren des Krieges von 1914bis 1918, die noch heute offenen Wunden der Schlachtfelder vonFlandern auf Jodie Glasgow. Die 14-Jährige ist mit ihrer Schulklasseaus dem englischen Ipswich nach Belgien gekommen. Nun steht sie imSchatten großer Eichen auf dem deutschen Soldatenfriedhof vonLangemark und zeigt ein verlegenes Zahnspangen-Lächeln.
«Es ist interessant, das aus erster Hand zu erleben», meint sie.Drei Tage Klassenreise zu den Schauplätzen des zermürbendenStellungskrieges haben das Geschehen von vor 90 Jahren für dieSchülerin greifbar gemacht. «Man sieht, wie viele Menschen ums Lebenkamen», sagt Jodie Glasgow. Allein auf dem Friedhof Langemark ruhendie Überreste von mehr als 44 300 deutschen Gefallenen.
Ihre Schicksale ähneln sich, ihr Leiden wird dadurch nichtleichter. «Es sind dies meine ersten Kriegserlebnisse. Aber was esauf der Welt Schreckliches gibt, habe ich gesehen und gekostet. Ichbin durch Artillerie-Sperrfeuer gelaufen, habe Gas geschluckt, bindurch Trommelfeuer zermürbt worden», schreibt der Soldat Erich Sidowam 17. August 1918 von der Front bei Compiègne an seine Frau nachHamburg: «Ich habe Verwundete gesehen, Tote, die zur Unkenntlichkeitverstümmelt waren. Schreckliches, abermals Schreckliches.»
Auch Otto und Marie Rößler aus Quedlinburg führen einen intensivenBriefwechsel. «Mein inniggeliebter Mann! Schon wieder sind drei Tagevergangen, und ich warte noch auf Nachricht von Dir», schreibt dieFrau mit «heißen Küssen» im September 1916: «Mein lieber Otto, ichbitte Dich von ganzem Herzen, spanne mich doch nicht mehr auf diewartende Folter. Gib mir Bescheid, ich weiß nun nicht mehr, was ichdenken soll. Auf Himmel und Erde habe ich keine Ruhe mehr. Ist diePost gesperrt, oder ist mit Dir was passiert?»
Sie ahnt es wohl: Als Marie Rößler diese sorgenvollen Worteabschickt, ist ihr Mann schon eine Woche tot. Ihre letzten Briefe -mit vielen anderen vor zehn Jahren von Deutschlandfunk und RadioFrance gesammelt und dokumentiert - kehren mit den Vermerken «Auf demFeld der Ehre gefallen» und «starb den Heldentod» von der Front ander Somme an die verzweifelte Absenderin zurück.
Schicksale wie das von Otto und Marie Rößler halten das Interesseam Geschehen des Ersten Weltkriegs wach. «Wir haben jetzt die dritte,vierte Generation danach, bekommen aber noch heute Anfragen», sagtHorst Howe vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Ahnenforscherbesuchen die alten Friedhöfe auf der Fahrt in denUrlaub. «Die fragen: "Unser Opa, war der nicht in Flandern?", undfangen dann an zu suchen», erzählt der Mann vom Volksbund auf demSoldatenfriedhof Langemark.
Dessen Tor aus Weserbergland-Sandstein erreichen die Besucherdurch einen dunklen Tunnel. Bildschirme zeigen dort Gasangriffe,Tote, das Ausheben von Schützengräben. Der Wind pfeift über die Hügelvon Flandern, Geschütze donnern. Schießschartenähnliche Öffnungenlenken die Blicke der Besucher auf einige Bunker zwischen denGräbern: «Das war die erste deutsche Linie hier», sagt Fachmann Howe.«Und von hier aus ist auch der erste deutsche Gasangriff erfolgt.»
Als die Gaswolken am 22. April 1915 aus den deutschen Gräbenaufsteigen und nach Westen wehen, freuen sich die Gegner zunächst.«Die Briten und Franzosen dachten, die deutschen Stellungen brennen»,berichtet der Historiker Jürgen Deleye vom Memorial MuseumPasschendaele. Doch die tödliche Wahrheit erreicht sie binnenMinuten. 3000 Soldaten sterben auf alliierter Seite. In den Jahrenbis zum Waffenstillstand am 11. November 1918 bauen beide Seiten diechemische Kriegsführung weiter aus.
Rasch ersetzen Granaten die stationären Gasflaschen, die nur beigünstigem Wind einsetzbar sind. Da hat entlang einer Frontlinie vonder Nordsee bis zur Schweiz längst ein furchtbarer Stellungskriegbegonnen. Munition mit Chlorgas, Phosgen oder «Grünkreuz», Yperitoder «Gelbkreuz», Senfgas fliegt hin und her. Rund 300 TonnenBlindgänger entschärft allein die belgische Armee noch heutealljährlich. Denn das Gift lauert weiter im Boden - Rost vergrößertdie Gefahr dieser Zeitbomben von Jahr zu Jahr.
In Langemark, wo der erste Gasangriff die kaum 16 Jahre alteHaager Landkriegsordnung schändet, zeugen nun Kränze aus künstlichenMohnblumen vom Gedenken an die Toten. Der Klatschmohn blühte nach demKriegswinter 1914/15 als erste Blume auf den Schlachtfeldern inFlandern. Vor allem Briten schätzen seine Symbolkraft noch heute. «Toall the Germans who lost their lives», lautet die Notiz an einem derKränze - die sämtlich von englischen Schülern niedergelegt wurden.
Zahlreicher ist der Grabschmuck auf den britischen Friedhöfen undam Menentor in Ypern. Dort versammeln sich auch an ganz normalenWochentagen Hunderte Zuschauer, wenn Freiwillige der lokalenFeuerwehr allabendlich den Zapfenstreich zur Erinnerung an dieKriegsopfer blasen. In die Außenwände des Stadttores sind die Namenvon 54 896 Soldaten des Commonwealth eingraviert, die bis MitteAugust 1917 vermisst gemeldet wurden.
Eine Mauer am Soldatenfriedhof Tyne Cot trägt die Namen vonweiteren 34 957 Vermissten. Zwischen den 11 971 Grabsteinen wachsenBlumen. Nur wenige Bäume überschatten das Gelände, anders als aufdeutschen Grabfeldern. Auf dem Friedhof Vladslo, wo Käthe Kollwitz'Skulptur eines trauernden Elternpaars über dem Grab ihres junggestorbenen Sohns Peter und 25 637 anderen Gefallenen wacht, herrschteine viel ernstere Stille. «Die deutschen und britischen Friedhöfesind sehr unterschiedlich», findet die 14-jährige Jodie. «Diebritischen sind mehr wie ein Garten, einfach angenehmer.»
Gemeinsam haben Langemark und Tyne Cot die Bunker. «Wenn Sie hiereinen Bunker sehen, ist es immer ein deutscher», erläutert HistorikerDeleye. Um die Frontlinie zu verteidigen, setzen die Deutschen 1916Tausende Unterstände aus Beton in den Boden. Das Material, erzähltDeleye, kommt vom Feind: Händler aus den neutralen Niederlandenbeziehen den nötigen Zement aus Großbritannien und verkaufen ihn andie deutsche Armee.
Den Stacheldraht und die korkenzieherförmigen Stahlstangen zuseiner Befestigung kaufen beide Seiten in Schweden. «Krieg, das istIndustrie und Kommerz - das ist heute noch so im Irak», meintMuseumsmitarbeiter Deleye. Den Ersten Weltkrieg macht dieKriegsindustrie zur ersten großen Materialschlacht zu Lande, zuWasser und in der Luft. Hochrüstung, Nationalismus und gezieltePropaganda führen in eine Katastrophe, über deren genaue Ursachenspäter noch lange gestritten wird.
Besucher des Memorial Museums in Passendaele erfahren vom Hungerdeutscher Soldaten, die im letzten Kriegsjahr eher über eroberteLebensmittel herfallen als über die Gegner. Das Flanders FieldsMuseum in der alten Tuchhalle von Ypern hebt in einer Sonderschau«Mensch- Kultur - Krieg» bis zum 7. September das Zusammentreffen vonKämpfern aus fünf Kontinenten in Flandern hervor: Mit den Briten undFranzosen treffen Inder, Senegalesen und andere Völker auf deutscheSoldaten, die Zigarren der Marke «Heil Germania» und das«Braunschweiger Soldatenliederbuch» im Marschgepäck hatten.
Einmal singen die Gegner sogar gemeinsam. Spontan steigen Soldatenbeider Seiten im ersten Kriegsjahr 1914 zu Weihnachten an etwa zehnOrten aus den Unterständen. «Die Engländer stimmten ein Lied an, wirsangen hierauf "Stille Nacht, heilige Nacht". Es war dies etwasErgreifendes: zwischen den Schützengräben stehen die verhasstestenund erbittertsten Gegner um den Christbaum und singenWeihnachtslieder», schreibt der Soldat Josef Wenzl an seine Eltern.«Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich sein.»
«Ein Kamerad unserer Kompanie hielt über die Deckung ein Schildmit der Aufschrift "Fröhliche Weihnachten"», notiert ein deutscherReserveleutnant in seinem Tagebuch. «Die Engländer antworteten baldauf dem gleichen Wege. In gutem Deutsch rief uns ein Engländer zu, obwir nicht die Toten zwischen den Stellungen fortschaffen wollten. (Eslagen um diese Zeit etwa 50 bis 60 Tote vor dem Kompanieabschnitt).Nach kurzem Überlegen waren wir einverstanden, und einige Kameradengingen gleichzeitig mit den Engländern auf die Deckung. Nachher batendie Engländer uns noch, Weihnachtslieder zu singen.»
Zwischen den Linien gibt es deutsches Bier und britischesBüchsenfleisch. «Tommy» und «Fritz» spielen auf dem frostigen Bodenzwischen den Linien Fußball miteinander. Ein Hauch von Menschlichkeitmitten im Morden, aber nicht überall. «Kein Friede hier - Beschussvon Ploegstert, Mesen und Rebecq», hält der britische LeutnantWilliam Tyrell in seinem Tagebuch fest. Nur an wenigen Stellenschweigen die Waffen einige Tage lang. Den Offizieren sind dieVerbrüderungen der einfachen Soldaten ein Dorn im Auge. Aus denFolgejahren ist kein gemeinsames Singen mehr überliefert.
Die Museen in und um Ypern halten die Erinnerung an dieseEreignisse wach - mit einer weniger einseitig-patriotischenSichtweise als noch vor einigen Jahren, wie Fachleute versichern. Undmit wachsendem Erfolg. Etwa 360 000 Menschen kommen jährlich in dieRegion, um der Geschichte nachzuspüren. «Ich habe den Eindruck, dasssich die jungen Leute wieder mehr dafür interessieren», meint JohanMartin vom regionalen Tourismusverband.
Es sind aber nach wie vor überwiegend Briten, die den Weg in denNordwesten Belgiens finden. Am Menentor in Ypern, das nach 1918errichtet wurde und noch Einschüsse aus dem Zweiten Weltkrieg trägt,steht Alan Finn. «Der Name meines Großvaters ist dort drüben in dieWand gemeißelt», sagt der 38-Jährige. Der Mann aus Lisbyrn inNordirland ist zum ersten Mal an der geschichtsträchtigen Stätte under betont: «Dies ist sehr beeindruckend.»
Diese Eindrücke wirken stärker als alle Weltkriegsandenken, dieeinige Souvenirläden ein paar Schritte weiter feilbieten. Geschäftund Gedenken sind in Ypern kaum zu trennen: Restaurants lockenTouristen mit mehrsprachigen Karten. Und selbst das feinste Hotel amPlatze stellt in seiner Lobby verrostete Helme, Uniformen und andereFunde von den Schlachtfeldern zur Schau. Der Krieg hat Ypern einstdem Erdboden gleichgemacht, heute lebt die Kleinstadt zum guten Teilvon der Erinnerung. Ob sie es will oder nicht.
«Mein Hobby ist der Krieg», bekennt Johan Martin, der denTourismus der Zukunft fördern soll und von der Vergangenheit nichtloskommt - schon aus familiären Gründen. Sein Großvater, erzählt der57-Jährige, hat 1914/18 gegen die Deutschen gekämpft und überlebt.Sein Vater aber habe später mit Nazi-Deutschland kollaboriert. Alsder Vater mitten im Zweiten Weltkrieg heiratete, weigerte derGroßvater sich, seine Tochter vor den Altar zu führen.
So ist das Geschehen von vor 90 Jahren für viele noch immer einesehr persönliche Sache. Auch für Jüngere wie Emily Raper. «Ich waretwas geschockt», erzählt die 15-Jährige aus Leeds, die mit ihrerSchulklasse die Schlachtfelder besucht. An der Somme fanden dieSchüler das Grab von Emilys Großonkel. «Ich habe mich betroffenergefühlt als bei irgendeinem Fremden», gesteht die junge Engländerin.Doch ihre Gedanken bleiben nicht bei der Familie stehen: «Wenn manalle diese Gräber sieht, das bringt einen schon zum Nachdenken.»
