Bärbel Bohley Bärbel Bohley: Die Mutter der Revolution ist tot

BERLIN/MZ. - "Wir schenken Ihnen einenSommer", sagten die Ärzte. "Einen Sommer -nehme ich gerne", antwortete Bärbel Bohley.Das war Anfang Juli. Einen Sommer, das bedeutete,die nächste Krebsuntersuchung wartete erstim September. Sie liebte den Sommer mit seinenFarben und Blumen, sie wusste, es würde ihrletzter sein. "Hoffentlich wird er noch richtigschön", sagte sie. Gut eine Woche später warsie wieder im Krankenhaus. Die Ärzte konntenihr Versprechen nicht halten. Der aggressiveTumor war zurückgekehrt. Am Sonnabend istBärbel Bohley gestorben. Sie wurde 65 Jahrealt.
Im April 2008 war sie zurückgekommen nachDeutschland. Sie fühlte sich kraftlos. Sieund ihr Mann hatten in der Herzegowina geradewieder ein Hilfsprojekt für Flüchtlinge ausZentralbosnien abgeschlossen. Siebzig Familienhatten Wasser für ihre Häuser erhalten. BärbelBohley hatte den Bau der Zisternen organisiert.1996 war die Bürgerrechtlerin, Symbolfigurder friedlichen Revolution 1989 in der DDR,ins Kriegsgebiet des ehemaligen Jugoslawiensgegangen, um für die internationale Friedensbehördefür Bosnien-Herzegowina ein dreijähriges Wiederaufbauprogrammzu leiten.
Es hatte ihr nicht gefallen, wie Deutschlandsich entwickelte, damals, in den Neunzigern.Sie war enttäuscht, weil die Menschen so schnellzum Konsumalltag übergegangen waren. Sie hieltes für alarmierend, wenn in den östlichenBundesländern mitunter nur ein Drittel derMenschen zur Wahl gingen, wenn sie - aus Frust- rechtsextrem wählten oder sich an die altvertrautenGenossen in der PDS hielten. Das Klima inDeutschland schreckte sie. "Immer lustig undfidel und per E-Mail um die ganze Welt, diesedeutsche Spaß-Gesellschaft nervt nur noch",stellte sie damals fest. Kaum jemand hörteihr zu. Sie ging. Dorthin, wo sie glaubte,gebraucht zu werden. So, wie sie in der DDReine Bewegung, das Neue Forum, mitgegründethatte, der sich alle anschließen konnten,brachte sie nach dem Ende des Krieges verfeindeteGruppen - Serben, Bosnier, Kroaten, Muslime,Katholiken - zu einer "Koalition für Rückkehr"zusammen. Sie konnte glaubwürdig vermitteln.
Die Bürgerrechtlerin half den Menschen aufdem Balkan auf ihre Weise. Sie verteilte nichteinfach Geld vom Schreibtisch aus. Sie gingzu den Leuten, in die halbzerstörten, halbaufgebautenHäuser, in Flüchtlingslager. Sie hatte einenBlick dafür, wer am dringendsten Hilfe brauchte,einen Blick dafür, was notwendig war. "Ichguck das immer so mit meinem praktischen Hausfrauenverstandan", sagte sie dann. Die Leute verehrten siedafür wie eine Schutzheilige. Die Aufbauprojektebedeuteten harte körperliche Anstrengung.Monatelang war Bärbel Bohley auch in ihremletzten Jahr auf dem Balkan mit ihrem MannDragan Lukic, einem Lehrer aus Bosnien-Herzegowina,unterwegs. Bei ihrem letzten Projekt wähltesie wie immer selbst die Familien aus, dieeine Zisterne erhalten sollten. Das Paar fuhrmit dem Auto von Dorf zu Dorf, von Baustellezu Baustelle. Bärbel Bohley, die diplomierteMalerin, hatte sich das Wissen über den Zisternenbauangelesen. Sie überwachte die Arbeiten, reklamiertePfusch und Unregelmäßigkeiten. Als das letzteProjekt in der Herzegowina beendet war, hattenalle Familien Wasser. Und Bärbel Bohley warerschöpft.
Ausruhen in Deutschland, das wollte sie.Aber es wurde nicht besser. Im Mai vor zweiJahren dann die Diagnose: Krebs. Einen Momentdachte sie daran aufzugeben. Sie ging danndoch tapfer zu den Chemotherapien, zu denBestrahlungen. Bärbel Bohley war klein, zierlich,sie sprach leise. Sie war eine Kämpferin underwies sich immer als die Stärkere. Sie bezwangden SED-Staat, der sie 1983 zum ersten, 1988zum zweiten Mal einsperrte und aus dem Stasi-Gefängnisdirekt nach England expedierte, der die Menschenbevormundete und ihnen das Denken verbot.In den Achtzigerjahren ermutigte sie mit ihremBeispiel Millionen Menschen, sich gegen dasDDR-Regime aufzulehnen. Sie verlangte offenMeinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit,warf dem Staat die Verletzung von Menschenrechtenvor und gründete die "Initiative Frieden undMenschenrechte". Auch in ihrem zweiten Lebenin Ex-Jugoslawien setzte sie ihre Hilfsprojektegegen unzählige Widerstände um. Doch der Krebswar ein ungeahnter, unberechenbarer Gegner.In ihrer Berliner Wohnung in Prenzlauer Bergfühlte sie sich nach ihrer Rückkehr nichtmehr wohl. In dem Haus, in dem sich früherdie DDR-Oppositionellen zusammenfanden, indem die Gründung des Neuen Forums vorbereitetwurde fehlte ihr jetzt die Luft zum Atmen.Ganze Viertel waren aufwendig saniert worden,die Mieter hatten fast komplett gewechselt."Jedes zweite Geschäft ist ein Bio-Laden,in dem sich die neue Schickeria trifft. Damöchte man schon aus Protest ein Schweineschnitzelaus Markkleeberg verlangen", sagte sie. BärbelBohley wollte an den Stadtrand ziehen. Undblieb. Der Weg zum Krankenhaus war nur halbso weit. Sie sah das pragmatisch.
In den vergangenen 28 Monaten kümmerte siesich - vielleicht das erste Mal in ihrem Leben- vorrangig um sich selbst. Dabei war siepolitisch wach wie immer. Ließen ihre Kräftees zu, folgte sie Einladungen. Dennoch wares so etwas wie ein Rückzug. An sich selbstdenken. Das eigene Leben reflektieren. DieZeit, als es mit der DDR zu Ende ging, alssie mit anderen Oppositionellen wie mit ReinhardSchult, Jens Reich, Katja Havemann und IrenaKukutz im September 89 das Neue Forum gründete,nannte sie "die schönste Zeit meines Lebens"."Wir waren 24 Stunden am Tag absolut in Hochstimmung,wir schwebten, wir sprühten nur so vor Ideen",erzählte sie. Der Gründungsaufruf für dasNeue Forum hieß "Aufbruch 89 - Die Zeit istreif" und begann mit den legendären Worten:"In unserem Lande ist die Kommunikation zwischenStaat und Gesellschaft offensichtlich gestört..." Die Wirkung war überwältigend. "Ich lebtewie auf einem Bahnhof", erinnerte Bärbel Bohleysich am Ende ihres Lebens.
Die Leute gingen damals in ihrer BerlinerWohnung aus und ein, Fremde von irgendwoheraus der DDR riefen sie an, um ihr mitzuteilen,dass auch in ihrem Ort Demonstrationen stattfanden.Ihr Traum von einer Bewegung, der sich alleanschließen konnten, um das System zu verändern,erfüllte sich. Eine Partei sollte es nichtsein. "Ich kenne keine Partei, die mündigeBürger hervorbringt", sagte sie. Das ganzeLand lebte wie in einem Rausch, der schnellerendete als erwartet. Seit Beginn der Neunzigerjahrepappte dieser mutigen Frau dann der Aufklebereiner verbitterten "Jammersuse" an. Dabeiwar sie alles andere als larmoyant. Sie spracheinfach aus, was sie dachte, sie verabscheutediplomatisches oder opportunistisches Geplänkel.Als sich die Leute nach dem Herbst 89 vomNeuen Forum ab- und den Abenteuern des neuenLebens oder den etablierten Parteien zuwandten,sagte sie: "Ist doch okay so. Jede Bewegunghat ihre Zeit."
Bärbel Bohley hatte so eine Begabung,immer ein Stückchen tiefer in die Dinge hineinzublickenals andere. Sie sah Gefahren und Gefährdungeneher - und täuschte sich fast nie. Hätte sieetwa Anfang September 1990 nicht den Verdachtgehabt, dass "die uns im Einigungsvertragmit den Stasi-Akten über den Tisch ziehen",würden die Unterlagen des Mielke-Ministeriumsheute noch mit 30-jähriger Sperrfrist verschlossenim Koblenzer Bundesarchiv lagern. Mit einernochmaligen Besetzung der Stasi-Zentrale am4. September 1990 erzwang sie mit ihren Mitstreiterndie Öffnung der Akten. Wer weiß, Ibrahim Böhme,einer der schlimmsten Stasi-Spitzel, wäresonst vielleicht gar SPD-Vorsitzender geworden.Wie wohl niemand anders verkörperte BärbelBohley das Charisma der friedlichen Revolution1989. Sie wagte, ihrem Herzen zu trauen -zuallererst. Sie hatte ein Gespür dafür, zurrichtigen Zeit die richtigen Leute miteinanderzu verbinden und dann zu handeln. So gingsie als "Mutter der Revolution" in die Geschichtsbücherein. Dieses Gespür verließ sie auch auf demBalkan nicht. Sie hatte ein Grundvertrauen,dass die Dinge sich richten lassen.
Zeitlebens für andere engagiert, hatte BärbelBohley für sich selbst nie vorgesorgt. "Siehat als freiberufliche Revolutionärin gelebt",nannte der Bürgerrechtler Roland Jahn das.Als sie nach Deutschland zurückkam, war sieohne Einkommen. Als Künstlerin in der DDR,für fast alle Hilfsprojekte später hatte sieimmer nur karge Honorare erhalten. Selbstdie Sonderrente von 250 Euro für mittelloseSED-Opfer stand ihr nicht zu. Denn die istan eine Gefängnisdauer von mindestens sechsMonaten geknüpft. Sie war immer nur für Wocheneingesperrt gewesen. Zum Schluss lebte sievon einer kleinen Rente.
In den letzten zwanzig Jahren malte BärbelBohley keine Bilder mehr, irgendwie fand sienicht mehr die Ruhe dafür. Aber den Blickder Malerin bewahrte sie sich, die Kreativität.Sie liebte es, sich mit Schönem zu umgeben.Ihren Garten in Kroatien legte sie an wieein Landschaftsbild. Im Haus, in ihrer Wohnungstanden immer frische Blumen. Sie liebte es,gut zu essen, einen guten Wein, Freunde umsich. Viele schätzten ihren schlagfertigenWitz. Als Gregor Gysi ihr verbieten ließ,ihn einen Stasi-Spitzel zu nennen, nanntesie ihn eben einen Stasi-Spritzel.
Die letzten Wochen wollte Bärbel Bohley vorallem mit ihrem Sohn verbringen, nahen Angehörigen,den engsten Freunden. Sie wollte in kein Krankenhausmehr. So nahm sie Abschied. "Weißt Du, eigentlichhabe ich immer auf der richtigen Seite gestanden",sagte sie neulich. "Ist doch irgendwie beruhigend."