Nach Gauland-Eklat Aydan Özoguz nach Gauland-Eklat: Integrationsbeauftragte besucht thüringisches Heiligenstadt im Eichsfeld

Heiligenstadt - Das Mainzer Haus leuchtet heimelig in der Dunkelheit. Aus den Fenstern strahlt Licht in den Herbstabend, drinnen trägt Burkhard Wegener, ein Liedermacher aus Essen, vor überwiegend älteren Damen vertonte Gedichte von Theodor Storm vor.
Es ist, wenn man so will, ein sehr deutscher Abend in Heiligenstadt. Das Literaturmuseum in dem liebevoll restaurierten Fachwerkhaus in der Altstadt ist Storm gewidmet, der von 1856 an einige Jahre Richter in Heiligenstadt war. Gelebt hat der Dichter allerdings nie in diesem Haus, die Ausstellung möchte vielmehr zeigen, wie es hätte sein können. Es geht um das Verhältnis, das der Norddeutsche zum Eichsfeld hatte, dieser Region in Mitteldeutschland, die damals zu Preußen gehörte, um Heimat und Fremde, ein sehr deutsches Thema also, das das Land heute wieder stark beschäftigt.
Bevölkerung weiß nichts vom Özoguz-Besuch
Um deutsche (Leit-)Kultur, um Heimat und Fremde wird sich auch am nächsten Tag vieles drehen. Aydan Özoguz, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung in Berlin, kommt in die Kleinstadt ganz im Nordwesten Thüringens. Die meisten Heiligenstädter wissen das gar nicht, sie haben höchstens eine kleine Notiz in der Lokalpresse lesen können. In der Innenstadt herrscht samstägliches Treiben, die Menschen gehen einkaufen, Kurgäste kommen auf einen Kaffee in das schmuck renovierte Zentrum mit seinen Fachwerkhäusern und Barockbauten.
Dabei hat der Besuch der SPD-Politikerin ein sehr hässliches Präludium, das auch international für Aufmerksamkeit sorgte. Im August hatte der damalige Spitzenkandidat der Alternative für Deutschland, Alexander Gauland, bei einer Wahlkampfveranstaltung in Leinefelde, ein paar Kilometer von Heiligenstadt entfernt, von deutscher Kultur schwadroniert. Auch Björn Höcke war dabei, der Landes- und Fraktionschef der AfD in Thüringen. Der Wortführer des rechten völkischen Flügels lebt mit seiner Familie nicht weit von Heiligenstadt, in dem Dorf Bornhagen hat sich der Lehrer aus Westdeutschland ein altes Pfarrhaus gekauft.
Gauland, der Höcke trotz des gegen ihn laufenden Parteiausschlussverfahrens nach seiner Dresdener Rede stets unterstützt, hat Özoguz damals übel angegriffen. „Ladet sie mal hier ins Eichsfeld ein und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist“, sagte der frühere langjährige CDU-Politiker. „Danach kommt sie nie wieder hierher und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können.“
Der Satz führte zu heftigen Protesten, gegen Gauland wurden mehr als ein Dutzend Strafanzeigen wegen Volksverhetzung gestellt. Er war eine Replik auf einen Debattenbeitrag von Özoguz im Berliner „Tagesspiegel“. Dort hatte die Tochter von türkischen Einwanderern aus Hamburg geschrieben, eine spezifisch deutsche Kultur sei jenseits der Sprache schlicht nicht identifizierbar. „Schon historisch gesehen haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt.“ Sie löste damit eine heftige Debatte aus, nicht nur in der AfD. Das Eichsfeld gilt vielen seit Gaulands Ausfall als vergessener brauner Landstrich. Auch gegen dieses Bild wollen sie sich heute wehren in Heiligenstadt.
Heiligenstadt geht es gut
Özoguz, seit 2013 im Kanzleramt als Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration zuständig, zeigt sich trotz der Vorgeschichte entspannt. Es ist ein trubeliger Tag, wie ihn Politiker oft absolvieren, wenn sie außerhalb der Hauptstadt unterwegs sind. Am Vormittag besucht die SPD-Politikerin eine Sozialeinrichtung der Salesianer Don Boscos. Der katholische Orden betreibt in Heiligenstadt seit 1991 sehr erfolgreich in der Villa Lampe offene Jugendarbeit und betreut Flüchtlinge. Die Mauer rund um die Villa am Rande ist mit Graffitis verziert, das sieht man sonst kaum in Heiligenstadt.
Özoguz ist in den Liethentreff geladen, einer Einrichtung der Villa Lampe in einem ehemaligen Plattenbauviertel. Es gibt hier soziale Probleme, sagen die Mitarbeiter, und doch sind sie weniger groß als in anderen Gegenden im Osten Deutschlands. Der Stadt geht es gut, die Arbeitslosigkeit liegt bei 3,7 Prozent, so niedrig wie sonst nur im Süden und Südwesten Deutschlands, auch die Integration von Flüchtlingen gelingt besser als andernorts.
Vier AfD-Anhänger protestieren gegen Özoguz-Besuch
In dem Sozialzentrum geht es aufgeregt zu, Jugendliche rennen hin und her, warten auf den Gast aus Berlin. Die Veranstaltung ist nicht öffentlich, vorsichtshalber stehen aber auf der Straße ein paar Polizisten. Es kommt nicht zu dem befürchteten Auflauf, nur vier AfD-Anhänger protestieren gegen den Besuch. „Frau Özoguz, kümmern Sie sich lieber um Ihre salafistischen Brüder“, steht auf einem Plakat, auf der Rückseite „Lieber Eichsfelder Kultur als Kültür vom Bosporus“. Unmöglich sei es, dass das eine nicht für alle zugängliche Veranstaltung sei, erregt sich Ulrike Gremmler, eine ältere Frau. Dann klagt sie über die Flüchtlinge, über die Unsicherheit heute und dass in ihre Wohnung eingebrochen worden sei, von einer Bande aus dem früheren Ostblock. Was das mit Frau Özoguz zu tun hat? Nichts, das muss sie einräumen.
Die lässt sich davon nicht beirren, hat die Murrenden auch begrüßt. Özoguz ist elegant gekleidet, trägt einen dunklen Rock und einen grauen Blazer. Sie schaut sich nun die Einrichtung an, den neuen Spielplatz hinter dem Haus, kommt mit Müttern ins Gespräch, die sich dafür eingesetzt haben. Auch solche mit Fluchtgeschichte engagieren sich hier. „Es eine Chance sich kennenzulernen, wenn man miteinander redet“, lobt Özoguz. Sie wird diesen Satz noch oft sagen an diesem Tag, an dem sehr viel geredet wird, über Ausgrenzung und Hetze und den Umgang mit der AfD.
„Das mit Gauland? Finde ich nicht gut“, sagt Issa, einer der Jugendlichen, die regelmäßig in das Sozialzentrum kommen. Er macht hier Hausaufgaben, das ist viel besser als allein zu Hause. Issa ist 14 und hat dunkle Haut, sein Vater kommt aus Togo, seine Mutter ist Deutsche. Polizist will er einmal werden, am liebsten bei der Kripo, oder Rettungssanitäter, erzählt er. Zum Mittagessen sitzt Özoguz den Jugendlichen gegenüber, ein Buffet ist vorbereitet, auf den langen Tischen stehen Blumensträuße.
Özoguz konnte ihren Wahlkreis in Hamburg verteidigen
Die lokale Prominenz ist da, der Bürgermeister und natürlich auch Steffen-Claudio Lemme. Der SPD-Politiker hat Özoguz nach dem Ausfall von Gauland ins Eichsfeld eingeladen. Da gab es gleich noch einmal Aufregung, es hieß erst, Özoguz habe aus Sicherheitsgründen abgesagt. Das stellte sich als falsch heraus, der Besuch ließ sich nur im Wahlkampf nicht so kurzfristig einrichten.
Nun holt Özoguz ihn nach, es ist ihr wichtig, ein Zeichen zu setzen, dass sie sich von einem wie Gauland nicht einschüchtern lässt und dass das Eichsfeld anders ist als sein Ruf. Sie ist aus Hamburg angereist, dort hat sie ihren Wahlkreis und am 24. September ihr Direktmandat im Bundestag verteidigt.
Sonst aber ist seit der Wahl nichts mehr wie zuvor. Die SPD hat nach ihrem historisch schlechten Ergebnis angekündigt, in die Opposition zu gehen, Özoguz ist also wie alle SPD-Minister nur noch auf Abruf im Amt. Das politische Beben hat auch Thüringen nicht verschont, Lemme hat seinen Sitz im Bundestag verloren, die AfD ist in Thüringen nach der CDU nun mit über 22 Prozent der Stimmen die zweitstärkste Partei. In Heiligenstadt trösten sie sich damit, dass die Rechtspopulisten hier immerhin deutlich unter dem Landesschnitt liegen.
„Rassismus tötet die Menschlichkeit“
„Wir dürfen der AfD nicht die Meinungsführerschaft überlassen“, sagt Lemme, ein schlanker Mann mit Sakko und rotem Pullover. Gaulands Äußerung sei blanker Rassissmus, und Rassismus töte die Menschlichkeit. Das wird er später wiederholen, bei einer Diskussion im Alten Rathaus der Stadt.
Es liegt in einem schön sanierten Ensemble, rechts erhebt sich die gotische Kirche St. Marien, erbaut aus dem für die Gegend typischen roten Sandstein, gegenüber steht der ehemalige Sitz der Jesuiten. Sie waren dafür verantwortlich, dass die Reformation zurückgedrängt wurde und das Eichsfeld nach wie vor eine der katholischsten Gegenden Deutschlands ist. Selbst die SED hatte es hier schwer. Auf die tiefe Bindung zum Katholizismus sind sie hier stolz. In ganz Thüringen wird Martin Luther gefeiert und die Reformation, in Heiligenstadt, im einstigen Konvent der Jesuiten, der ein beachtliches Heimatmuseum birgt, ist eine erfolgreiche Ausstellung zur Gegenreformation zu besichtigen.
CDU-Landrat Henning hat sich über Gauland geärgert
Ist das also die spezifische Kultur des Eichsfelds? Deutsche Leitkultur gar? Um den Begriff geht es in der Diskussion, geladen sind nun auch Vertreter anderer Parteien und der Zivilgesellschaft in der Region, öffentlich ist auch diese Veranstaltung nicht. „Ich halte fest, dass deutsche Leitkultur schwer zu definieren ist“, sagt Özoguz auf dem Podium, und dass es in Deutschland viele sehr verschiedene regionale Kulturen gebe.
Kontroverse Standpunkte für die Diskussion, in der sich ansonsten alle recht einig sind, liefert Werner Henning, der Landrat des Kreises Eichsfeld. Der CDU-Politiker ist einer der wenigen im Osten Deutschlands, der seit kurz nach der Wende im Amt ist. Er habe sich über Gauland geärgert, sagt er vorher im Gespräch, dessen Auftritt sei kontraproduktiv für das Eichsfeld gewesen. „Es ist völlig unpassend, dass Leute hierherkommen, die das Eichsfeld für ihre Zwecke gebrauchen.“ Das zielt bewusst nicht nur auf Gauland. Was der inhaltlich gesagt habe, berühre ihn nicht, setzt er auf Nachfrage hinzu.
CDU-Politiker will keine Auseinandersetzungen mit AfD und NPD
„Leitkultur ist nicht mein Begriff“, sagt der CDU-Mann später auf dem Podium, und dass Kultur immer etwas sehr Konkretes sei. Dann klagt er über die Parteien der „neuen Zeit“ und die zunehmende Ideologisierung der Gesellschaft. Und wie hält er es mit der NPD, die gerade hier im Eichsfeld auf eine lange Tradition zurückblicken kann, und der AfD? „Ich habe mir diese Leute nicht ausgesucht“, sagt er, und dass er auf Kreisebene keine ideologischen Auseinandersetzungen zulasse. Das sorgt für harte Kritik. Mehr Haltung und mehr klare Grenzen gegenüber der AfD und der NPD habe man sich gewünscht, kritisiert Sandro Witt vom DGB.
„Haltung und Kraft“ wünscht sich auch die Integrationsbeauftragte aus dem Kanzleramt. Sie glaubt, dass es noch sehr viel zu diskutieren geben werde. Auch mit einem wie Gauland? Das dann doch nicht, sagt Aydan Özoguz im Gespräch, man müsse Grenzen definieren.
Zurückgenommen hat Gauland seinen Angriff auf sie nie und sich auch nicht entschuldigt, nur treuherzig immer wieder versichert, dass er vielleicht doch ein bisschen hart war. „Er hat mich gezielt herausgesucht, um mich als gut Integrierte zu verhetzen“, davon ist Özoguz überzeugt.
Sie ist zufrieden mit dem nicht ganz einfachen Besuch. Manche der Gäste haben nach der Diskussion dennoch ein ungutes Gefühl. Bewusst haben die Verantwortlichen die AfD nicht eingeladen, um ihr kein Podium zu geben. Und doch ist sie, wie so oft, auch an diesem Tag in Heiligenstadt immer anwesend.