Aussteiger Aussteiger: Hilfe, mein Sohn ist Neonazi!

Berlin/ddp. - Vor dreiJahren schnappte sie ihre fünf Kinder und tauchte unter. Doch nochimmer fürchtet sie die Rache ihrer ehemaligen Kameraden, darunter ihrEx-Mann, ihre Mutter und ihr Stiefvater. «Für die bin ich einVerräterschwein - und das bin ich gerne», sagt Tanja Privenau amDonnerstag in Berlin.
Bei ihrem Schritt in ein neues Leben wurde sie von demAussteigerprojekt «Exit» unterstützt, heute hilft sie anderen selbstmit ihrer Erfahrung und ihrem Wissen. Besonders Eltern sind oftüberfordert, wenn ihr Kind in die rechte Szene abzurutschen droht.Deshalb hat «Exit» nun eine Familienhilfe ins Leben gerufen, die sichgezielt um Angehörige von Neonazis kümmern soll.
Die Familie als zentraler Ort der Auseinandersetzung mitrechtsextremer Ideologie sei bisher vernachlässigt worden, sagt«Exit»-Gründer Bernd Wagner. Rund 300 Neonazis habe das Projekt seitseiner Gründung im Jahr 2000 bei ihrem Ausstieg aus der rechten Szenebegleitet. Besonders überrascht sei er jedoch gewesen, wie vieleEltern und Geschwister sich über die Hotline gemeldet hätten. «Wirwurden geradezu überschüttet mit Hilfegesuchen», berichtet Wagner.Gelegentlich hätten sich sogar Kinder gemeldet, die sich Sorgen überihre rechtsgesinnten Mütter und Väter machten. Künftig sollen vierfeste Mitarbeiter und ein Netzwerk von Experten professionelle Hilfeleisten. Für jeden einzelnen Fall werde ein individuelles Konzepterarbeitet.
Tanja Privenau sei ein «klassisches Beispiel» für einenrechtsextremen Familienzusammenhang, berichtet der Koordinator der«Exit»-Familienhilfe, Dierk Borstel. «In diesem Fall ist ein Ausstiegunheimlich schwierig.» Der Schritt sei mit Abschied und Trennungverbunden. In der Regel meldeten sich jedoch Mütter und Väter, dieerste Zeichen von rechten Tendenzen wahrgenommen hätten und sich umdie Entwicklung ihrer Kinder sorgten.
Ein Junge habe beispielsweise seiner Familie unter demWeihnachtsbaum plötzlich von der nordischen Mythologie vorgeschwärmtund ihnen verkündet, die Zeit sei reif für «dennationalsozialistischen Aufbruch». Die Eltern seien erst einmalerschüttert gewesen. «Wenn sie den ersten Schock überwunden haben,fragen sie sich: 'Wie gehe ich damit um'», sagt Borstel. Dabeidominierten zunächst praktische Fragen, zum Beispiel was manverbieten könne und was nicht, was man ernst nehmen müsse und wasnicht. Wie bei einer Sekte stehe die Frage im Mittelpunkt: «Wiekriege ich meinen Sohn da wieder raus?»
Im Fall des von nordischer Mythologie schwärmenden Jungen habe«Exit» der Mutter geholfen, rechtes Gedankengut zu erkennen und zuanalysieren, damit sie in Zukunft mit ihrem Sohn diskutieren könne.Die Familienhilfe wolle einen «Ort des Zweifelns» schaffen, betonteBorstel. «Der Ausstieg passiert nicht von heute auf morgen, sondernist ein Prozess.» Durch Gespräche in der Familie sollten Brüche inder Idologie sichtbar gemacht und Alternativen zum Rechtsextremismusaufgezeigt werden. Dabei profitiere «Exit» von den Erfahrungen derAussteiger, sie fungieren im Einzelfall als direkte Ansprechpartner.
Tanja Privenau kennt den Prozess. Sie war über 20 Jahre langführendes Mitglied in rechtsextremen Organisationen, doch irgendwannkonnte sie die Zweifel nicht länger ignorieren. Die gelernteHeilpraktikerin hat sich eigenen Worten zufolge stets gefragt, ob siedas wirklich wolle: «Denn Mensch bleibt man ja».