Auschwitz-Prozess in Lüneburg Auschwitz-Prozess in Lüneburg: Der Wunsch nach später Gerechtigkeit
Lüneburg - Vor dem Landgericht Lüneburg beginnt am 21. April einer der vermutlich letzten größeren NS-Prozesse in Deutschland. Der frühere SS-Unterscharführer Oskar Gröning muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen verantworten. Der heute 93-Jährige soll im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau das Gepäck der Häftlinge beiseite geschafft und entnommene Banknoten an die SS in Berlin weitergeleitet haben. Der Prozess stößt auch international auf großes Interesse. Bis zum 29. Juli sind 27 Verhandlungstermine angesetzt.
Systematisches Tötungsgeschehen unterstützt
Als Freiwilliger der Waffen-SS hat Gröning Dienst getan in Auschwitz-Birkenau, dem größten deutschen Vernichtungslager in Zeiten nationalsozialistischen Rassenwahns. Mehr als eine Million Menschen sind dort ermordet worden, die weitaus meisten waren Juden. Den „Buchhalter von Auschwitz“ hat ihn der „Spiegel“ in einem Porträt einst genannt, der Name blieb haften. Gröning soll geholfen haben, das von den Häftlingen zurückgelassene Gepäck beiseitezuschaffen.
„Damit sollten die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge verwischt werden“, heißt es bei der Staatsanwaltschaft Hannover. Er habe zudem die entnommenen Banknoten gezählt und an die SS in Berlin weitergeleitet. Gröning sei bewusst gewesen, dass als „nicht arbeitsfähig“ eingestufte Häftlinge ermordet würden. So habe er „dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile verschafft und das systematische Tötungsgeschehen unterstützt.“
„Den Überlebenden geht es um eine sehr späte Gerechtigkeit, die sie von der deutschen Justiz erwarten“, sagt Thomas Walther. „Ihre Eltern und Geschwister werden Gesicht und Stimme gewinnen.“ Der Rechtsanwalt vertritt 31 der mehr als 60 Nebenkläger - Überlebende und Nachgeborene, allesamt Opfer, auf unterschiedliche Weise. „Nachgeborene haben Geschwister gehabt, denen sie nie begegneten“, sagt Walther.
„Sie sind in die Schattenfamilien hineingeboren worden, die die Überlebenden des Holocaust gründeten und die lediglich von den Schatten der in Auschwitz Ermordeten begleitet wurden.“ Kinder und Enkel seien geprägt und teils auch traumatisiert durch das Unaussprechliche des Grauens.
„Über all diesem Leben liegt ein dunkler Schatten, der den Namen Auschwitz trägt.“ Aus rechtlichen Gründen wurde die Anklage auf die sogenannte „Ungarn-Aktion“ im Sommer 1944 beschränkt, als mindestens 137 Eisenbahntransporte aus Ungarn kamen. Von den rund 425 000 Menschen in den Zügen wurden mindestens 300.000 in den Gaskammern ermordet.
Großes Medieninteresse
„Wegen des Wohnorts ist das Landgericht Lüneburg zuständig“, sagt Sprecherin Frauke Albers. „Das Interesse der Medien an dem Prozess ist groß.“ So wurde eigens die Ritterakademie angemietet, sonst ein Veranstaltungsort. Von den 60 Plätzen für Journalisten wurden 23 für ausländische Medienvertreter reserviert.
„Akkreditiert haben sich auch die „New York Times“ und die britische BBC, auch Journalisten aus Russland und Ungarn werden dabei sein“, sagt Albers. Das Verfahren dürfte einer der letzten größeren Prozesse über NS-Verbrechen sein. „Wir haben immer wieder gedacht, dass wir auf das Ende zusteuern, doch dann kamen immer neue Prozesse“, sagt Kurt Schrimm, Leiter der NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg. „Mit zunehmendem Alter von Beschuldigten und Zeugen sinkt aber die Wahrscheinlichkeit weiterer großer Verfahren.“
Rechtsanwalt Walther betont, inzwischen habe sich die Überzeugung durchgesetzt, dass jede Form der Beihilfe zu NS-Verbrechen für eine Verurteilung reiche und nicht mehr wie früher eine eigenhändige Beteiligung an den Mordtaten nachgewiesen werden müsse. Und er richtet den Blick auf Gröning: „Jeder Angeklagte hat die Möglichkeit zu schweigen, er hat aber auch die Chance zu sprechen.“
Das könnte im Fall Grönings durchaus passieren. Er hat im Jahr 2005 dem „Spiegel“ von seiner Zeit in Auschwitz berichtet und dabei die Massenmorde nicht geleugnet. „Gerechtigkeit wollen die Nebenkläger“, betont Walther. „Gröning selbst hat ein wesentliches Element dieser Gerechtigkeit in seinen Händen: die Wahrheit.“ Im Gerichtssaal werden viele Menschen anwesend sein, sagt Walther. „Manche werden zu sehen sein. Andere werden nur in der Beschreibung ihres Leidensweges da sein.“ (dpa)