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Anne Sinclair Anne Sinclair: Die verliebte Kriegerin

Von MAXIM LEO 29.06.2011, 15:27

NEW YORK/MZ. - Vor ein paar Tagen ist sie nachts aus dem Haus geschlichen. Vielleicht wollte sie spazieren gehen, mal alleine sein. Ein paar Minuten diesem Haus entkommen, in dem sie nun seit mehr als vier Wochen eingesperrt ist. Sie trug einen schwarzen Pullover, ausgewaschene Jeans und eine blaue Mütze, die ihr Haar verdeckte. Aber nach wenigen Schritten war ihr Spaziergang beendet, als die Fotografen, die das Haus belagern, sie entdeckten. Die Aufnahmen stehen im Internet. Anne Sinclair sieht wütend und ängstlich aus. Hilflos.

Sie ist dann zurückgerannt in dieses Haus mit der roten Backsteinfassade und den weißen Fenstern. 153 Franklin Street, Manhattan, New York City. Es ist das wahrscheinlich luxuriöseste Gefängnis der Welt. Mit nur einem Gefangenen. Und seiner Ehefrau. Der Gefangene heißt Dominique Strauss-Kahn, 62 Jahre alt, bis vor kurzem Chef des Internationalen Währungsfonds, von der New Yorker Staatsanwaltschaft wegen Vergewaltigung eines Zimmermädchens angeklagt. Anne Sinclair ist seit zwanzig Jahren mit ihm verheiratet. Sie hat die sechs Millionen Dollar Kaution gestellt, ohne die ihr Mann den Knast in Rikers Island nie hätte verlassen dürfen. Sie hat die Star-Anwälte engagiert, die ihn verteidigen. Sie hat dieses Haus gemietet. Drei Etagen, 632 Quadratmeter Wohnfläche, drei Schlafzimmer, vier Badezimmer, Loft, Küche, Terrasse, Spa, Kinosaal, Fitnessraum. Monatsmiete 50 000 Dollar. Sie ist bei ihm, Tag und Nacht. Sie ist eine Mitgefangene.

Im goldenen Käfig

Das Haus ist auf der Internetseite einer Maklerfirma zu besichtigen. Man kann eintauchen in die kühle Wohnwelt aus antikem Eichenholz, Marmor und Milchglas. Man sieht das Schlafzimmer, das Bett mit der braunen Tagesdecke, das Badezimmer, die verchromte Regenfall-Dusche. Es ist fast so, als säße man vor dem Monitor der Sicherheitsfirma, die das Paar rund um die Uhr mit Videokameras überwacht. Es gibt keinen Winkel in diesem goldenen Käfig, in dem das Ehepaar für sich sein kann. Jedes Gespräch wird von Mikrofonen aufgezeichnet, jede Bewegung von den Kameras erfasst. So hat es das Gericht verfügt.

Vor der Tür stehen zwei bewaffnete Beamte der New Yorker Polizei, in einem Nachbargebäude sitzt der Überwachungsstab der Sicherheitsfirma. Auf der Straße stehen vier Bodyguards, die der Pressemeute den Weg versperren. Das alles finanziert Anne Sinclair, die Millionen-Erbin. Etwa 200 000 Dollar pro Monat kosten allein die Sicherheitsmaßnahmen. Das heißt, sie muss auch noch dafür bezahlen, keine Intimität mehr zu haben. Ein Freund des Paares erzählt, die beiden würden manchmal nachts stundenlang flüsternd unter der Bettdecke liegen. Es kann noch Monate dauern, bis der Prozess beginnt. Mehr als ein Jahr kann vergehen, bis es irgendwann ein Urteil gibt. So lange müssen sie unter der Bettdecke flüstern, wenn sie sich etwas zu sagen haben, was niemand hören soll.

Der Moral-Joker

Die Ironie der Geschichte ist, dass Anne Sinclair ihren Dominique wohl noch nie so unter Kontrolle hatte. Aus einem umherschweifenden Frauenhelden ist ein Mann mit elektronischer Fußfessel geworden. Wenn sie ihn verlässt, ist er geliefert. Sein neues Leben kostet monatlich mehr, als er beim Währungsfonds pro Jahr verdient hat. Seine ganze Verteidigungsstrategie beruht darauf, dass die Ehefrau zu ihm hält. Sie ist sein Moral-Joker. Und sie wird ihn wohl nicht verlassen. Sie hält ihn fest, sie kämpft mit allen Mitteln für diesen Mann, der sie nicht zum ersten Mal betrogen hat. Der vielleicht ein Vergewaltiger ist. Warum tut sie das?

Es gibt ein Foto, das im Frühjahr 2006 in Paris aufgenommen wurde. Anne Sinclair steht neben ihrem Mann. Strauss-Kahn spricht mit Journalisten, er ist konzentriert, scheint in sich selbst versunken zu sein. Anne Sinclair betrachtet ihn von der Seite. Das heißt, eigentlich himmelt sie ihn an. In ihrem Blick liegt Hingabe und Zärtlichkeit, Liebe und Bewunderung. Es ist der Blick einer Frau, die ihrem Mann verfallen ist.

Es gibt viele solcher Fotos. Jede Menge Liebesbeweise. Als die beiden sich am 20. Mai zum ersten Mal nach Strauss-Kahns Verhaftung in einem New Yorker Gerichtssaal begegnen, dreht er vorsichtig den Kopf zu ihr. Und sie hat wieder diesen Blick und wirft ihm eine Kusshand zu. So was kann man nicht spielen.

Magische Verbindung

Wenn Freunde der beiden befragt werden, wie es um das Paar stand in letzter Zeit, dann wird von allen eine tiefe Innigkeit beschrieben. "Man kann Anne nicht verstehen, wenn man ihre Liebe zu Dominique nicht versteht", sagt zum Beispiel die Fotografin Micheline Pelletier, eine enge Vertraute, der Zeitschrift L'Express. "Die beiden sind auf eine Art miteinander verbunden, wie ich es noch bei keinem anderen Paar erlebt habe." Laure Adler, eine andere Freundin, sagt dem Fernsehsender France 2, Anne Sinclair sei auch nach 20 Jahren noch vom Charme und von der Intelligenz ihres Mannes betäubt. "Das ist keine banale Beziehung, das ist eine fast magische Verbindung."

Über Strauss-Kahns Frauengeschichten durfte allerdings auch im Kreis der Freunde nicht geredet werden. "Wenn einer von uns darüber sprach, ist sie vom Tisch aufgestanden und gegangen", sagt Laure Adler. Mit ihrer besten Freundin, Elisabeth Badinter, brach Anne Sinclair 2006 den Kontakt für Monate ab, weil die es gewagt hatte, nach den Gerüchten zu fragen, die in ganz Paris über Strauss-Kahns amouröse Eskapaden kursierten. "Bist du meine Freundin oder nicht?", soll Sinclair gefragt haben. Damit war das Gespräch beendet.

Als sich die beiden zum ersten Mal begegnen, ist Anne Sinclair in Frankreich ein Fernsehstar und Dominique Strauss-Kahn ein kaum beachteter sozialistischer Finanzpolitiker. Sinclair moderiert eine politische Talkshow, die von zwölf Millionen Franzosen gesehen wird. Wenn sie im pastellfarbenen Mohair-Pullover mit ihren blauen Augen die Kamera fixiert, steigt bei Frankreichs Männern die Pulszahl. In einer Sendung im Juni 1989 wird Strauss-Kahn als Experte zugeschaltet. Sie sagt, sie habe sein Gesicht auf dem kleinen Schwarz-Weiß-Monitor im Studio gesehen und sich sofort in ihn verliebt.

Nach der Sendung ruft sie ihn an. Sie verabreden sich für den nächsten Tag zum Mittagessen. Eine Woche später sind sie ein Paar. Sechs Monate später lässt sich Anne Sinclair von ihrem ersten Mann scheiden. 1991 heiraten sie, im Rathaus des 16. Pariser Arrondissements. Im Trauzimmer steht eine Büste der Marianne, der Symbolfigur der französischen Republik, die nach einem Porträt von Anne Sinclair geformt wurde.

Eine Sache wird oft vergessen, wenn über dieses Paar gerätselt wird: Es ist Anne Sinclair, die ihren Mann zu dem gemacht hat, was er bis vor kurzem war. Sie führte ihn in die Pariser Gesellschaft ein, machte ihn mit den wichtigen Leuten bekannt, finanzierte seinen Wahlkampf, weitete seinen Blick, sprach für ihn. "Ich bin mit ihr neu auf die Welt gekommen", wird Strauss-Kahn später einmal sagen. Und sie wird sagen, sie habe ihm nur einen kleinen Schubs gegeben, damit er sich nach vorne traut, in die erste Reihe. Da wollte sie ihn sehen, ihren Dominique. "Sie hat das Potenzial in ihm erkannt, das wollte sie entwickeln", sagt ein Freund der Familie. "Anne kann nur jemanden lieben, den sie auch bewundert", sagt ihre Freundin Micheline Pelletier.

Gemeinsamer Aufstieg

Und ihre Bewunderung, die musste sich Strauss-Kahn verdienen. Es ging darum, erfolgreich zu werden, seinen Charme und seine Intelligenz zu nutzen. Er machte das gut, wurde 1997 Frankreichs erster Superminister für Wirtschaft und Finanzen. Um ihm nicht im Weg zu stehen, gab Anne Sinclair ihre Fernsehsendung auf, zog sich ins Familienleben zurück.

Immer wieder wird gesagt, sie habe sich ihrem Mann geopfert. Aber die Sache scheint komplizierter zu sein. Ein befreundeter Schriftsteller sagt, sie habe es genossen, ihrem Mann zu helfen, für ihn da zu sein. "Für Anne war es ein gemeinsamer Aufstieg, und es kam ihr zupass, dass sie selbst nicht mehr im Rampenlicht stehen musste. Sie hat in gewisser Weise ihre Karriere an ihn delegiert. Was aber auch hieß, dass sie sich für seinen Erfolg verantwortlich fühlte." Wenn das stimmt, dann wäre es so eine Art Joint Venture aus Liebe und Macht, das Anne Sinclair und Dominique Strauss-Kahn zusammen hält.

Das scheint bei ihr eine Familientradition zu sein. Anne Sinclair war immer umgeben von starken, bewundernswerten Männern, die von ihren Frauen liebevoll nach vorne gedrängt wurden. Ihr Vater, Joseph-Robert Schwartz, ein erfolgreicher Kosmetikfabrikant, war so einer. Ihr Großvater, Paul Rosenberg, einer der größten Kunsthändler des zwanzigsten Jahrhunderts, war es auch. Anne Sinclair wurde 1948 in New York geboren, der Stadt also, in der sie jetzt mit ihrem Mann gefangen ist. Ihr Vater hatte als Jude in der französischen Résistance gekämpft und war nach dem Krieg nach Amerika ausgewandert. Im Partisanenkampf hatte er den Decknamen "Sinclair" getragen, der später der Familienname wurde. In New York lernte er seine spätere Ehefrau Micheline kennen, die Tochter von Paul Rosenberg, der auch Jude war und Frankreich 1939 verlassen musste.

Anne Sinclair wächst in einem mondänen Stadthaus an der Ecke 79. Straße und Madison Avenue auf, nur ein paar Schritte vom Central Park entfernt. Sie ist Einzelkind, wird vom Vater behütet und verwöhnt. Schon damals ist die Familie sehr reich, was vor allem dem Großvater zu verdanken ist, der nicht nur Kunsthändler, sondern auch Sammler war. Er interessierte sich früh für Maler wie Georges Braque, Fernand Léger und Henri Matisse. Paul Rosenberg kaufte ihre Bilder, als noch kaum jemand diese Namen kannte. Sein wichtigster Künstler aber war Pablo Picasso, dessen Werke er von 1918 bis 1939 exklusiv weltweit verkaufte. Sie wohnten sogar fast zusammen, Picasso und Rosenberg. In einem Haus in der Rue la Boétie in Paris hatte der Künstler im Dachgeschoss sein Atelier. Im Erdgeschoss war Rosenbergs Galerie. Wenn Picasso ein Bild fertig gemalt hatte, stellte er es unten vor Rosenbergs Tür.

Wohnung, Villa, Palast

Hunderte Bilder behielt Rosenberg in seiner Sammlung. Sie sind bis heute das Kapital der Familie. Von Zeit zu Zeit taucht eines der Bilder am Kunstmarkt auf, wie zuletzt im November 2007 "L'Odalisque, harmonie bleue" von Matisse, das für 33,6 Millionen Dollar bei Christie's in New York verkauft wurde. Bei der Auktion saß Anne Sinclair in der ersten Reihe.

Sinclair und Strauss-Kahn haben immer glamourös gelebt. Viel zu glamourös, wie vor allem die Genossen in der sozialistischen Partei finden. Das Paar, das als links gelten wollte, das sich für soziale Gerechtigkeit einsetzte, zeigte sein Geld. Die Villa in Washington, den Palast in Marrakesch, die riesige Wohnung am eleganten Pariser Place des Vosges. Jetzt fließen die Millionen des Großvaters in die Verteidigung des untreuen Ehemannes, was die Bürger von Frankreich noch mehr zu schockieren scheint als die Vergewaltigungsvorwürfe.

Sie wären weit gekommen, diese beiden Liebesmächtigen. Wahrscheinlich sogar bis in den Élysée-Palast. Strauss-Kahns Kandidatenrede für die Präsidentschaftswahlen war bereits geschrieben, von Anne Sinclair übrigens. Es heißt, sie hätte ihn gedrängt, in den Wahlkampf zu ziehen. Das Leben als Gattin des IWF-Chefs in Washington sei ihr auf Dauer zu langweilig gewesen.

Gleich zwei Hiobsbotschaften

All das war plötzlich hinfällig, als Strauss-Kahn am 14. Mai um 14.30 Uhr New Yorker Zeit die Handynummer seiner Frau wählte, die gerade in Paris war, um ihr von einem "schlimmen Problem" zu berichten. Stunden später sieht sie die Bilder im Fernsehen. Ihr Mann, mit gesenktem Blick, abgeführt von zwei Polizisten. Spätestens da wusste sie, dass es nichts wird mit der Präsidentschaft. Und dass sie wohl mal wieder von ihm betrogen worden war. Welche dieser beiden Nachrichten hat sie wohl am meisten erschreckt?

Ihre Freundin Pelletier sagt, die Geschichte mit dem Zimmermädchen habe Anne Sinclair tief getroffen. "Sie hatte das Gefühl, die Erde tue sich unter ihr auf." Trotzdem wäre sie sofort nach New York aufgebrochen. Zuvor hat sie noch ein kurzes Statement ins Internet gestellt: "Ich glaube diesen Anschuldigungen keine Sekunde..." Es war derselbe Ablauf wie drei Jahre zuvor, als Strauss-Kahns Liaison mit einer ungarischen IWF-Kollegin bekannt wurde. Auch damals hat sie ihn sofort beschützt. "Solche Dinge können jedem Paar passieren. Wir lieben uns wie am ersten Tag", erklärte sie. Wie viel Kraft kosten solche Sätze?

Mit eiserner Miene

Und wie hat sie es geschafft, die Tage und Wochen danach zu überstehen? All diese traurigen, schmutzigen Details zu ertragen. All diesen Frauen zuzuhören, die sich auf einmal an die Öffentlichkeit wagten. Frauen, wie die junge Schriftstellerin Tristane Banon, die Strauss-Kahn einen "brünstigen Schimpansen" nannte, der über sie hergefallen sei, und dem sie nur in großer Not entkommen konnte.

Nichts davon sieht man ihr an, wenn sie Arm in Arm mit ihm zum Gerichtstermin erscheint. Wenn die Sicherheitsleute eine Schneise schlagen müssen zwischen der Fotografenmeute und den aufgebrachten Zimmermädchen, die vor ihnen auf den Boden spucken und "Schande über euch" rufen. Sie läuft dann aufrecht, mit eingefrorenem Gesicht. Wie eine Soldatin, die das Vaterland verteidigt.

Sie wird diesen Weg zum Gericht noch oft gehen müssen. Die nächste Anhörung ist am 18. Juli. Dann wird entschieden, wann die Hauptverhandlung beginnt. Es gibt Gerüchte über eine außergerichtliche Einigung. Anne Sinclair soll bereit sein, viel Geld an das Zimmermädchen zu zahlen, wenn die ganze Sache dafür sofort beendet wird. Und wenn nicht, dann wird eben weiter gekämpft. "Sie ist eine Kriegerin", sagt Ivan Levai, den sie vor 20 Jahren verlassen hat, um mit dem anderen Mann zusammenzuleben. "Eine sehr mutige Kriegerin."