Berliner Skandal-Akte Amri Anis Amri: Berliner LKA hatte mehr gegen Terroristen von Berlin in der Hand, als bislang bekannt war

Berlin - Genau 60 Sekunden dauert das Gespräch, das Anis Amri am Abend des 15. Mai mit seinem Freund Karim H., genannt „Montassir“, führt. Er bete um Schutz vor dem bösen Auge, sagt Amri zu „Montassir“, als er in der Nähe des Parks am Berliner Gleisdreieck in sein Handy spricht. „Sag so etwas nicht“, weist ihn der leicht kränkelnde Montassir prompt zu Recht. „Ich will (…), dass Du ein Wolf bist. Du sollst Runden drehen um jede Kneipe (…), ich meine, so wie ich es Dir erklärt habe.“
Solche Dialoge gibt es immer wieder in diesen Monaten. Stets hört das Landeskriminalamt Berlin mit. Die Ermittler verstehen die verschlüsselte Sprache sofort. Es geht um kriminelle Drogengeschäfte.
Mal soll Anis Amri in ein Café gehen, dort einer Person „Dings in die Hand drücken, das Geld in die Hand nehmen, und fertig ist die Sache“. Mal geht es um eine „englische Gruppe, die Blaue haben will“, mal um „graues Haar“. Es sind konspirative Anweisungen für die Tage im späten Frühjahr 2016, in denen der spätere Terrorist vom Berliner Breitscheidplatz ins Milieu der Organisierten Kriminalität abrutscht. Karim alias „Montassir“ ist sein Pate in dieser Szene, die zwischen dem Tiergarten, dem berüchtigten Görlitzer Park und angesagten Elektro-Klubs am Spreeufer wie dem „Watergate“ oder dem „Chalet“ versucht, mit Amphetaminen und Kokain das schnelle Geld zu verdienen.
„Seine Beine sowie sein Kiefermuskel zitterten dauerhaft“
Amri, der Tunesier, ist vor allem Befehlsempfänger, verunsichert durch seine Angst vor der Polizei, die ihn erst im Februar mit zur Wache genommen hatte, um ihn zu kontrollieren. Später vermerken sie, dass Amri „äußerst angespannt“ gewirkt habe. „Seine Beine sowie sein Kiefermuskel zitterten dauerhaft“, hießt es in einem internen Behördenbericht.
Noch in der Nacht nach dem ersten Gespräch vom Gleisdreieck telefonieren die beiden Kumpel erneut. Die Auswerter aus dem LKA-Referat 541„Politisch motivierte kriminelle Ausländer (Islamismus)“ notieren über den gut fünfminütigen Dialog gegen 1 Uhr in arabischer Sprache: „Montassir verspricht ein gutes Einkommen für Anis. Er würde vom Weiten arbeiten, nicht vom Garten aus, denn das bedeutet immer Gefängnis. Er versichert, dass der Plan, über den er mit Anis gesprochen hat, spätestens in zwei Monaten über die Bühne sein wird.“
Polizeiliches Aktenzeichen für Amri
Was der Plan genau ist, bleibt offen. Doch den Beamten im LKA reicht, was sie gehört haben. Sie erstellen nach monatelanger Beobachtung am 1. November im polizeiinternen System „Poliks“ einen Auswertebericht über Amris Telefonüberwachung, ein Dutzend Seiten lang, und geben dem Vorgang ein polizeiliches Aktenzeichen. Der Vorwurf: „gewerbs- und bandenmäßiger Handel“ mit Betäubungsmitteln. Ein besonders schwerer Fall also, „Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr“, wie es im Gesetz heißt. Für den Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) ist klar: „Nach Ansicht von Experten hätten diese Erkenntnisse ausgereicht, um bei der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl zu erwirken.“ Kurzum: Der Anschlag vom 19. Dezember 2016 hätte wohl auch durch Berliner Behörden verhindert werden können.
Das Problem: Der Bericht ist offenbar im Polizei-System hängen geblieben. Jedenfalls geht so die Version von Senator Geisel, der deswegen den Vorwurf der „Strafvereitelung zugunsten von Anis Amri“ im Raum stehen sieht – und Strafanzeige gegen LKA-Mitarbeiter erstatten ließ.
Drogenvorwürfe stark verharmlost
Nicht nur das: Er erhebt auch den Verdacht der Manipulation und strengt Ermittlungen wegen Urkundenfälschung an. Haben einen Monat nach dem Anschlag Polizisten des LKA den Auswertebericht nachträglich verfälscht und auf den 1. November rückdatiert – ausgerechnet auch noch an dem Tag, als Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt ein Lösch-Moratorium für Akten zu Amri verhängte? Es ist ein beispielloser Manipulationsverdacht, der international für Schlagzeilen sorgt und die Angehörigen der Opfer erneut aufwühlen dürfte. Dieser Zeitung liegen zahlreiche Dokumente zu dem Vorgang vor – und sie werfen noch weitere, drängende Fragen auf. Fakt ist: Der umstrittene Auswertebericht ist nachträglich deutlich verkürzt und die Drogen-Vorwürfe darin gegen Amri dermaßen relativiert worden, so dass eine Verhaftung aussichtslos erscheinen musste.
In dem vom jungen Kriminaloberkommissar Martin N. (Name geändert) unterzeichneten Bericht, ist plötzlich nur noch von „Kleinsthandel mit Betäubungsmitteln“ die Rede. Wollte der LKA-Kommissar nachträglich seine verpasste Chance zur Inhaftierung des Terroristen vertuschen? Auch disziplinarrechtlich müssen mehrere Beamte des LKA-Staatsschutzes mit harten Ermittlungen rechnen. Aufgeflogen ist die Sache nur, weil der vom Senat eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost Widersprüche erkannte und im Polizei-System „Poliks“ nachschauen ließ. Dort fand sich schließlich der Ursprungsvermerk.
LKA stellte Überwachung eigenmächtig ein
Außerdem belegt ein Schriftwechsel zwischen dem LKA Berlin und dem Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen, dass die Ermittler in der Hauptstadt tatsächlich zunächst wegen des schwerwiegenderen Tatbestandes vorgehen wollten. Warum das nicht geschah, bleibt weiter ein Rätsel.
Der Brief wurde am 30. September nach Düsseldorf übermittelt. Zwölf Tage zuvor hatte das LKA Amris Handy letztmalig abgehört. Drei Tage nach diesem Telefonat stellte das LKA die Überwachung eigenmächtig ein.
