Kanzlerin Angela Merkel ist zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt worden

Berlin - Sechs Monate nach der Bundestagswahl ist Angela Merkel dann plötzlich Kanzlerin und der Bundestag erstarrt. Es ist 9.53 Uhr als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble das Wahlergebnis verkündet: Vier ungültige Stimmen, 688 gültige, 364 Ja-Stimmen, 315 Nein-Stimmen, neun Enthaltungen.
Merkel ist zum vierten Mal Kanzlerin. Zu den Zwölf Jahren und 112 Tagen werden nun noch ein paar dazu kommen. Aber 35 Abgeordnete der Koalition haben ihr die Unterstützung versagt. Der Reichstag ist vollbesetzt und trotzdem ein paar Sekunden völlig still. Ein kleiner Schock bei den einen vielleicht, die erstmal nachrechnen, wieviele Stimmen da fehlen aus den Fraktionen von Union und SPD. Ein kurzes etwas ungläubiges Erstaunen möglicherweise bei anderen: Gewählt. Nun also doch, nach all diesem Hin und Her, nach wochenlangen Verhandlungen, Nachtsitzungen und der sehr ernsten Debatte um Neuwahlen: Das Regieren kann beginnen.
SPD reagiert verhalten
Die Union fasst sich schnell und applaudiert, ihre Abgeordneten erheben sich. Die SPD bleibt verhalten, es klatscht der ein oder andere. Er wähle ohne Enthusiasmus, so hat das SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil zuvor das Gefühl der Sozialdemokraten zusammengefasst.
Auf der Tribüne klatschen Merkels Mutter Herlind Kasner und der Chemieprofessor Joachim Sauer, der nun zum vierten Mal Kanzlerinnengatte wird. Er hat sich sonst immer entschuldigt mit seiner Arbeit. Seit kurzem ist er in Rente, da ist nun offenbar mehr Zeit für andere Dinge. Und es ist ja auch gut möglich, dass es Sauers letzte Gelegenheit ist, die Wahl seiner Frau im Bundestag zu verfolgen. Ihre vierte Amtszeit als Kanzlerin wird vermutlich die letzte sein.
Mäßiges Interesse
Sauer ist allerdings auch an diesem Tag sehr beschäftigt. Während der ersten längeren Pause, noch vor Schäubles als unten im Saal die Abgeordneten einer nach dem anderen dem Alphabet nach zur Wahl gerufen werden, zieht er seinen Laptop hervor und fängt an zu schreiben. Neben ihm schaut sein Sohn Daniel auf sein Handy. Um beide herum ist munteres Geplauder: Eine Tribüne weiter unterhalten sich Julia Klöckner und Franziska Giffey, die beide im selben Knallblau gekommen sind und am Nachmittag Agrar- beziehungsweise Familienministerin sein werden.
Horst Seehofer nützt seine neue Freiheit, als Nicht-Mehr-Ministerpräsident und Noch-Nicht-Minister und kommt einfach mal eine 20 Minuten zu spät zu der heren Veranstaltung. Auf der Bundesratsbank unten im Saal sitzt auf dem Bayern-Platz Ilse Aigner. Sie ist als Vize-Regierungschefin gerade die erste Frau im Staate Bayern, lange wird das nicht währen. Am Freitag übernimmt im Freistaat Markus Söder.
Merkel sagt Ja
„Nehmen Sie die Wahl an?“ fragt Schäuble zwischen den Applaus der Unions-Abgeordneten. Och nö, könnte Merkel jetzt sagen. Es würde passen zu dieser Regierungsbildung, bei der sich Besonderheit an Besonderheit gereiht hat, von schlechtem Wahlergebnis, über den Aufstieg der AfD und den Ausstieg der FDP aus Regierungsverhandlungen. Die SPD hat sich von einem Nein zu einem Ja in die Regierung gequält, SPD-Chef Martin Schulz hat darüber seinen Job verloren. Viel hat sich verändert. Merkel sagt natürlich: „Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.“
Frauke Petry schenkt ein Buch
Und dann kommen sie alle zum Gratulieren und da gibt es wenigstens eine Kontinuität: Unions-Fraktionschef Volker Kauder ist der erste. Und nach dem heimatlichen Mecklenburger Glückwunsch kommt schon SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. Wenn es etwas Neues gibt an dieser Regierung, dann das: Erstmals sind die beiden mächtigsten Positionen einer Regierung von Frauen besetzt.
Ein Blumenstrauß und noch einer und noch einer, die Kanzlerin stapelt sie auf ihrem Tisch. Die Ex-AfD-Vorsitzende Frauke Petry gratuliert mit strahlendem Lächeln und überreicht ein Buch „Höhenrausch – die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“. Merkel legt es schnell zur Seite, Petry hat ihre öffentliche Aufmerksamkeit.
Und schließlich raffen sich auch noch die AfD-Fraktionschefs auf. Regungslos haben sie erst die Gratulation verfolgt, Alice Weidel hat sich abgewandt. Dann baut sich Bundestagsvize-Präsident Wolfgang Kubicki von der FDP vor ihnen auf. Er reißt die Arme weit auseinander. Niemand sei verpflichtet, jetzt auf ewig auf seinen Plätzen sitzen zu bleiben, habe er gesagt, erzählt Kubicki hinterher. Und das es durchaus stilvoll wäre, einfach mal zu gratulieren. Gauland und Weidel folgen. Auch sie reichen Merkel kurz die Hand.
Und was ist eigentlich mit Martin Schulz? Der Tag der Kanzlerwahl ist auch nochmal ein Tag seiner Niederlage. Vor genau einem Jahr galt er noch als Siegertyp, der Mister 100-Prozent der SPD. Die Saarland-Wahl, die alles ins Rutschen brachte, war noch nicht gelaufen. Die SPD hatte gerade einen Kongress der Europäischen Sozialdemokraten abgehalten und Schulz war der stolze Gastredner. Er hatte gerade ein Treffen mit den Spitzenkandidaten der Grünen und den Vorsitzenden der Linkspartei hinter sich.
Schulz nur noch Nebenfigur
365 Tage später ist nicht nur ein rot-rot-grünes Bündnis weit entfernt und Schulz nicht Kanzler. Er hat die große Koalition erst mit Verve abgelehnt, dann doch den Koalitionsvertrag mitverhandelt und verteidigt. Nun ist er noch nicht mal mehr Parteichef, und auch kein Minister, sondern nur noch eine Nebenfigur.
Beim Zählappell der SPD-Fraktion vor der Wahl fehlt er zunächst, in den Plenarsaal kommt er ein paar Minuten vor Sitzungsbeginn. Er vertieft sich in ein Gespräch mit Nahles, oder sie sich in eines mit ihm – ein bisschen Seelenmassage darf schon mal sein. Dann nimmt er in der dritten Reihe Platz, nicht ganz hinten, immerhin das. Dort bleibt er sitzen, zeitweise mit dem Oberkörper weit nach vorne gebeugt, als wolle er in sich versinken. Vor ihm liegt eine rote Mappe. Irgendwann kommt die Kanzlerin zu ihm, ein kleines Gespräch. Aber ausgerechnet da ist der Name S an der Reihe. Das wäre es noch: Schulz stimmt nicht ab, weil er sich mit Merkel festquatscht. Er nimmt seine Mappe und eilt davon. Später wird er unter den ersten sein, die der Kanzlerin zur Wahl gratulieren.
Gabriel würdigt SPD keines Blickes
Sigmar Gabriel dagegen ist schnell verschwunden. Er wäre gerne Außenminister geblieben, ist aber von Nahles für nicht teamfähig genug befunden worden. Was er davon hält, macht er auf seine Weise deutlich. Während der Abstimmung betritt er den Saal, geht zielstrebig zu Merkel in die erste Reihe. Ein paar Worte mit der Kanzlerin, ein paar Worte mit FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der an diesem Tag offenbar die Rolle eines Zeremonienmeisters für sich beansprucht. Dann verlässt der Ex-Minister und Ex-SPD-Chef den Saal. Eine Linken-Abgeordnete umarmt ihn, kein Blick geht in Richtung SPD.
Der Tag der Regierungsbildung ist ein Tag von Aufstiegen und Abstiegen und von Emotionen. Es ist auch ein Tag des Hin- und Herfahrens zwischen Bundestag und Bundespräsidialamt. Nach der Wahl macht sich Merkel auf den Weg zu Steinmeier, der ihr ihre Ernennungsurkunde überreicht. Dann geht es zurück in den Reichstag zur Vereidigung, dann wieder zu Steinmeier mit den gesamten Ministern, dann wieder zurück zu deren Vereidigung.
Erstmal ist dort Merkel an der Reihe. Und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble noch eine Frage: „Geht das auf die Entfernung?“, will er von Merkel wissen. Er hält die Urschrift des Grundgesetzes hoch, sie sieht ein wenig vergilbt aus. In Artikel 56 ist darin die Eidesformel. „Verteidigungsformel“ wird er später am Tag aus Versehen sagen, aber so unpassend ist das eigentlich gar: Die dritte Merkel-Groko hat sich für ihre Existenz ja schon ziemlich rechtfertigen müssen.
Merkel schwört zum vierten Mal
Merkel soll also den Eid vorlesen. Sie nickt, hebt die rechte Hand und schwört, sie werde ihre Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widmen, das Grundgesetz verteidigen und ihre Pflichten gewissenhaft erfüllen wolle. Besonders deutlich fügt sie hinzu: „So wahr mir Gott helfe.“
Ein paar Minuten lang hat sie dann die Kabinettsreihen für sich alleine. Es sind die Minuten, in denen Schäuble ihr gratuliert, und in denen er zwei Mal die AfD rügt: Ein bayerischer Landtagskandidat entrollt auf der Tribüne ein Plakat mit der Aufschrift „Merkel muss weg“. Und der ebenfalls bayerische Bundestagsabgeordnete Petr Bystrom twittert ein Foto von seinem ausgefüllten Wahlzettel. Der eine wird wegen Verstoßes gegen die Hausordnung von der Tribüne verwiesen, Byström muss ein Ordnungsgeld von 1000 Euro zahlen, weil er gegen den Grundsatz der geheimen Wahl verstoßen hat. Was auf diese Weise gelingt: an einem Tag, an dem die Kanzlerin im Fokus steht, etwas Aufmerksamkeit bekommen.
Nahles ist verwundert
Und während sich die Ministerkolonne ins Präsidialamt in Bewegung setzt, wird in den Fraktionen das Wahlergebnis debattiert. In der FDP wird frohlockt, das Bündnis von Union und SPD sei wohl doch viel kippliger als die Großkoalitionäre sich das zuletzt eingeredet hätten. Nahles sagt, sie sei verwundert: Die Vielzahl der Gegenstimmen im eigenen Lager gingen wohl aufs Konto der Union. Dort wird das nicht wirklich abgestritten. Ein CSU-Abgeordneter etwa sagt: „Die Fraktionsspitze hätte schon etwas besser werben können.“ Vor allem der Landesgruppenchef Alexander Dobrindt habe „nicht gerade getrommelt“ für die Merkel-Wahl.
Im Präsidialamt sind Merkel und einige andere in den letzten Monaten häufiger gewesen. Der Bundespräsident hat der SPD nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen eindrücklich ins Gewissen geredet, zumindest mal mit der Union zu sprechen. Wer sich zur Wahl stelle, könne sich nicht verweigern, das war seine Argumentation. Die Union, die erst so unglücklich war, keinen der ihren zum Bundespräsidenten gemacht zu haben, ist nun im Nachhinein froh darüber, dass es ein Sozialdemokrat war.
Aufgereiht stehen die Minister da nebeneinander, die schwarzen Urkundenmappen mit goldenem Bundesadler in der Hand: zum Beispiel ein sehr ernster Außenminister Heiko Maas, eine ergriffene Franziska Giffey, ein stolz gestreckter Gesundheitsminister Jens Spahn, ein Finanzminister Olaf Scholz, der so fröhlich grinst, dass man es fast glucksen hört.
Steinmeier sagt, es läge jetzt „Bewährungsjahre für die Demokratie“ an. Die Regierung müsse sich „neu und anders bewähren“. Jedenfalls sei es jetzt erstmal gut, dass die Zeit der Ungewissheit und Verunsicherung vorbei sei. „Es wurde auch Zeit.“
