Merkel-Porträt Angela Merkel: Flüchtlingskrise zeigt eine neue Facette der kühlen Machtstrategin

Berlin - Balletttänzerin wäre sie gerne geworden, sagt Angela Merkel. Oder Schwebebalkenturnerin. Mit zehn oder elf Jahren seien das ihre Berufswünsche gewesen. Sie sitzt auf einer Theaterbühne.
Das Publikum lacht. Vielleicht stellen sie sich vor, dass sich diese Frau im roten Blazer von ihrem Platz erhebt und auf Spitzenschuhen Pirouetten dreht, wie sie FlicFlacs über rote Teppiche springt und mit Wladimir Putin ein Pas de Deux hinlegt.
Angela Merkel stattdessen Kanzlerin geworden, Balanceakt in der Politik statt im Tutu, im Ballettröckchen. Zwölf Jahre lang macht sie den Job nun und will gerne noch vier weitere dranhängen.
Die CDU-Spitzenkandidatin ist erfahren, verhandlungssicher
Sie liegt vorne in den Umfragen, ihr Sieg gilt als ziemlich sicher. Aber wie ein feiner Schleier liegt die Nervosität über dem Wahlkampf und der CDU-Spitzenkandidatin. Sie ist erfahren, verhandlungssicher, an Interviews gewöhnt.
Aber beim Fernseh-Duell mit ihrem Herausforderer Martin Schulz von der SPD hat Merkel rote Flecken im Gesicht.
Aber erstmal sitzt Angela Merkel ja auf diesem rosafarbenen Sessel auf der Bühne eines Berliner Theaters und spricht über dies und das, übers Lichtschalterfinden in neuen Hotels zum Beispiel, oder darüber, dass sie Cartoons oft nicht versteht.
Vor der Wahl wird Merkel besonders nahbar
Und eben über ihre gar nicht so unüblichen Mädchen-Träume. Es ist Sommer, die Frauenzeitschrift „Brigitte“ hat zu einem öffentlichen Plauderabend geladen. Die Stellwände tragen das Logo einer Kosmetikfirma.
Merkel sagt, sie habe das mit dem Ballett dann irgendwann abgehakt: „Man muss sich mit seinen Beschränkungen abfinden.“ Männliche Politiker erzählen vom Fußball. Merkel erzählt von frühen Bewegungsmisserfolgen. Sie ist ungewöhnlich mitteilsam in diesen Monaten vor der Wahl.
Sie gibt Dutzende Interviews, sie schaltet auf persönlich. Einer Klatschzeitschrift verrät sie ihr Rezept für Kartoffelsuppe. Im Fernsehen sagt sie, dass sie lieber Wurst isst als Schokolade.
Freundliche Smileys, aber nicht an Neuer oder Trump
Kinderreportern erzählt sie, dass sie weder die Handynummer des Fußballtorwarts Manuel Neuer habe noch die von US-Präsident Donald Trump.
Bei Youtube sagt sie mit keckem Lächeln, dass sie per Handy Smileys verschickt, freundliche, und auch solche „mit Schnute“, wenn mal was nicht so gut laufe. Keine grimmigen allerdings.
Wohin die Schnutensmileys gehen, muss man sich selbst überlegen. Neuer und Trump kann man als Empfänger streichen. „Da können Sie träumen“, sagt die Kanzlerin in diesem Sommer auch in einer ungewöhnlichen Anwandlung von Poesie - allerdings redet sie da seltsamerweise über das CDU-Wahlprogramm und neben ihr steht CSU-Chef Horst Seehofer.
Der CDU fehlte der Großstadtflair
Wenn man nach alldem träumt, sieht man Merkel an ihrem Schreibtisch von einer Dauerwurst abbeißen und danach Seehofer anrufen.
„Wie groß ist der Unterschied zwischen Ihnen und Seehofer?“, fragt der 13-jährige Franz sie bei einer Veranstaltung im Wahlkampfhaus der CDU, das in der Galerie-Café-Yogastudio-Gegend in Berlin-Mitte liegt.
Ein leerstehendes ehemaliges Kaufhaus, in dem sonst Modeschauen stattfinden, roher Betonboden und unverputzte Wände innen. Hat man jetzt so und der CDU fehlte Großstadtflair.
Sie hat ein riesiges rotes Plüschherz an die Decke gehängt und einen Roboter aufgestellt, der schreiben kann. Schriftsteller kommen zum Diskutieren und jetzt eben Kinder samt Eltern zum Popcornessen.
Merkel lässt sich von Kindern interviewen
Die Kinder dürfen Merkel außerdem Fragen stellen. Der Unterschied zu Seehofer? „Er ist 30 Zentimeter größer“, sagt Merkel. Geschickt herausgemogelt. „Wir haben manchmal unterschiedliche Ansichten. Aber das Gemeinsame überwiegt“, fügt sie dann schon noch hinzu.
Es sind ihre üblichen Sätze zu dem Thema, irgendwo muss es bei Politikern Reflexknöpfe geben, die Satzbausteine freigeben. Merkel ist schon wieder bei den Kanarienvögeln und Kaninchen ihrer Schwester, weil die elfjährige Ella nach ihren Haustieren gefragt hat.
Mit den Kaninchen sei es manchmal unglaublich traurig gewesen, sagt Merkel, weil die gestorben seien, wenn sie mal ein falsches Salatblatt gegessen hätten. Dem sechsjährigen Justus antwortet sie auf die Frage nach der Lieblingsfarbe: „Die Farbe vom Rittersporn“. Als Sechsjähriger hat man es auch nicht einfach mit so einer Kanzlerin.
Flüchtlingsfrage spaltete Merkel und Seehofer
30 Zentimeter Unterschied also zu Seehofer. Wenn das alles wäre. Ein paar Meter stand sie hinter dem CSU-Chef auf diesem Parteitag vor zwei Jahren und es wirkte wie der Auftritt vor einem Scheidungsrichter.
Es gab den Streit um die Flüchtlinge, viele waren gekommen. Merkel hatte gesagt „Wir schaffen das“ und die Grenzen nicht geschlossen, weil sie darin keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung des Problems sah, nach Italien, auf den Balkan.
Seehofer war anderer Meinung. Auf dem Parteitag hielt Merkel eine Rede, die wenig werbend war. Seehofer übernahm das Mikrophon, redete und redete und ließ Merkel einfach da stehen. Sie wirkte immer kleiner. Der Streit zog sich weiter.
Merkel antwortete nicht auf Seehofers Briefe, sie bemühte sich nicht um Freundlichkeit. Sie verschärfte zwar ihre Politik, widersprach ihm aber bei seinem Lieblingsthema Obergrenze. Es war ein öffentliches Armdrücken, tobend Seehofer, kühl die Kanzlerin. Mittlerweile schwärmt der CSU-Chef wieder von Merkel.
Flüchtlingspolitik prägte die dritte Amtszeit
Die Flüchtlingspolitik hat Merkels dritte Amtszeit geprägt, sie hat der Kanzlerin eine neue Facette hinzugefügt, eine emotionale, warmherzige. Die kühle Machtstrategin, die Stoikerin war sie bis dahin gewesen, die in der Finanzkrise die Ruhe behielt und im Ukrainekonflikt nächtelang versuchte, den russischen und ukrainischen Präsidenten zu einem gemeinsamen Beschluss zu bewegen.
Eine umständliche und technokratische Rednerin auch, die ihren durchaus vorhandenen Sprachwitz morgens in die Brotzeitdose zu packen schien, als Notration für die kleine Pause
„Wenn ich im Kochtopf rühre, sagte ich nicht: Die Kanzlerin rührt im Kochtopf“, hat sie einmal gesagt. Bei den Reden scheint ihr Gedanke sehr wohl zu sein: „Die Kanzlerin hält eine Rede.“ Mit dem Zusatz: „Alle berücksichtigen, nicht anecken, Auswege offen halten.“
Mangelnde Sensibilität bei palästinensischer Schülerin Reem
Noch wenige Wochen vor dem „Wir schaffen das“ hatte Merkel sich noch den Vorwurf mangelnder Sensibilität eingehandelt, als sie der palästinensischen Schülerin Reem in einer öffentlichen Debatte sagte, ihre Aufenthaltsunsicherheit als Bundeskanzlerin nicht ändern zu können, weil es eben Gesetze gebe. Reem brach in Tränen aus.
Es gab andere Bilder und Vorkommnisse, auf die sie sich immer wieder bezieht. Die Schiffe voller Flüchtlinge, die im Mittelmeer sanken. Der tote kleine Junge an einem Mittelmeerstrand.
In einem Lastwagen auf einem österreichischen Autobahnparkplatz wurden Dutzende toter Flüchtlinge gefunden. In Deutschland wüteten Demonstranten vor Flüchtlingsheimen. Merkel befand, wenn man sich dafür entschuldigen müsse, ein freundliches Gesicht zu zeigen, sei das „nicht ihr Land“.
Niemandem werde wegen der Flüchtlinge etwas genommen
Das Land wurde überspült von Emotionen: Zugewandheit und Hilfsbereitschaft bei den einen, Furcht und Aggression bei den anderen.
Furcht und Aggression reisen Merkel nun hinterher zu ihren Wahlkampfveranstaltungen. Sie pfeifen, und schreien. Sie finden die Kanzlerin nicht warmherzig, sondern irrational und gefährlich.
Merkel sagt, Deutschland habe lange von der Globalisierung profitiert und müsse nun einmal, 1 Mal, mit einer Folge der Globalisierung fertig werden. Sie weist darauf hin, dass niemandem in Deutschland etwas weggenommen werde wegen der Flüchtlinge.
Demonstranten übertönen die Kanzlerin
Manchmal kann man sie nicht verstehen, weil es so laut ist. Den Demonstranten sagt sie dann, dass Schreien nicht gerade eine Lösung sei. In Torgau erzählt sie, dass sie gerade Oppositionelle aus Venezuela getroffen habe, die froh sein würden, wenn sie in ihrer Heimat die Freiheit für solche Demonstrationen hätten.
Freiheit ist ein wichtiger Begriff für Merkel, sie zieht ihn dem der Sicherheit vor. Immer wieder erzählt sie, dass sie als junge Erwachsene in der DDR damit rechnen musste, erst im Rentenalter richtig reisen zu können.
Dass sie da gelernt habe, vorsichtig zu formulieren, weil einen feine Andeutungen schon zum Klassenfeind machten. Sie war eher angepasst in der DDR, eine Wissenschaftlerin mit Expertise für den Zerfall von Kohlenwasserstoffmolekülen.
Schönstes Erlebnis: Joachim Sauer kennen zu lernen
Im Forschungsinstitut in Berlin Adlershof hat sie ihren zweiten Ehemann, den Chemieprofessor Joachim Sauer kennengelernt. Als ihr schönstes Erlebnis hat sie das gerade bezeichnet, so eine öffentliche Liebeserklärung hat man bisher auch noch nicht von Merkel gehört.
Ihr Privatleben hält sie möglichst privat. Ab und zu kommt Herr Sauer mit auf eine Reise oder zum Gipfel, jedes Jahr begleitet er sie - oder sie ihn - zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Dieses Jahr kam Sauer mit falsch geknöpftem Jackett.
„Warum sind Sie Kanzlerin geworden?“, fragt im CDU-Wahlkampfhaus mit dem roten Plüschherz Klara. Acht Jahre ist sie alt, zwei Wahlperioden in politischer Zeitrechnung. Das Jahr 2005, als Merkel zum ersten Mal antrat, muss für sie klingen wie aus ganz fernen Zeiten.
Vom CDU-Vorsitz direkt ins Kanzleramt
„Naja“, sagt Merkel und beginnt noch ein bisschen früher: Das Land sei geteilt gewesen, dann habe es eine Revolution gegeben. „Dann mussten neue Leute in die Politik gehen. Und da bin ich auch in die Politik gegangen.“
Sie lässt die Kapitel aus, in denen sie mit Ende 30 erst Frauen- dann Umweltministerin im Kabinett Kohl wurde, als sie als Quotenfrau und unerfahrene Ostdeutsche galt, belächelt und in gönnerhafter Bräsigkeit von ihren Kollegen als „Mädel“ bezeichnet wurde.
Für die Kinder geht der Weg direkt über den CDU-Vorsitz ins Kanzleramt. „Man kann sich was überlegen, und das dann auch durchsetzen, wenn man Unterstützer findet“, sagt Merkel. „Das macht mir Freude.“
Zerstörungskraft der Atomkraft sei ihr nicht klar gewesen
Was sie sich da so überlegt, ist allerdings oft nicht ganz klar, zumindest nicht von vorneherein. Es ist eher eine reaktive Kanzlerschaft, die Merkel pflegt. Die erste Amtsperiode dominierte die Finanz- und Bankenkrise und die SPD mit der Rente mit 67.
Die zentralen Beschlüsse der folgenden schwarz-gelben Regierung waren nicht vorgesehen: Die kassierte zunächst den rot-grünen Ausstieg aus der Atomkraft.
Nachdem ein Tsunami 2011 im japanischen Fukushima ein Akw zerstört und einen ganzen Landstrich unbewohnbar gemacht hatte, sagte ausgerechnet die Physikerin Merkel, ihr sei die Zerstörungskraft der Atomkraft nicht klar gewesen.
Atomausstieg und Wehrpflicht aussetzen
Innerhalb weniger Tage gab es einen strikteren Ausstiegsplan als zuvor unter Rot-Grün. Und dann fiel auch noch die Wehrpflicht weg, die die Union gerade noch als konstitutives Element der Republik bezeichnet hatte.
Aber es war kein Geld mehr da und auch keine große Begeisterung mehr in der Bevölkerung. Mit ihrem Pragmatismus ist Merkel ziemlich gut gefahren, sie hat den konkurrierenden Parteien ihre Themen abgegraben.
Sie müsse eben immer alles erst genau durchdenken und dann ihre Entscheidung treffen, sagt Merkel. Es gibt die, die finden, sie warte vielleicht oft mehr als zu denken. Merkel sagt, wenn sie einmal entschieden habe, dann bleibe sie meist auch dabei. Stimmt auch nicht immer, siehe Atomkraft.
Neugierde auf Themen und Menschen
Das spannende an ihrem Job sei, dass sie oft morgens nicht wisse, was den Tag über passieren werde, so beschreibt Merkel ihre Arbeit auch. So begründet sie auch ihre vierte Kanzlerkandidatur: mit der Neugierde, auf Themen und Menschen.
Verkündet hat sie diese Kandidatur allerdings eher wie einen Operationstermin, im November letzten Jahres, im hell erleuchteten Foyer der CDU-Zentrale: „Alles andere als trivial“ sei diese Entscheidung, sagte Merkel da, das Jackett leuchtend rot wie ein Ausrufezeichen. Viel wird da hinein gespielt haben.
Auf der einen Seite die Erinnerung an Helmut Kohl, der seiner Partei nach 16 Jahre zur Bürde wurde. Der Gedanke ans Älterwerden wohl auch. Selten hat Merkel so häufig auf die Gesundheit verwiesen wie in den vergangenen Monaten.
Digitalisierung als neues Hauptthema
Auf der anderen Seite: Der damals gerade gewählte Donald Trump, der noch nicht ausgestandene Streit um die Flüchtlingspolitik, der Amtsbonus, die fehlenden personellen Alternativen in der CDU. Und natürlich, man kann ihr das schon zugestehen, das Interesse an Politik.
Die Digitalisierung hat sie sich jetzt zum Hauptthema erkoren, das ist nicht so strittig wie etwa die Sozialpolitik. Merkel findet die soziale Lage ganz ok, hier und da müsse man justieren, vor allem aber das Land für die Zeit in zehn, 15 Jahren aufstellen, mit neuen Technologien, neuen Arbeitsplätzen. Weil sonst die soziale Frage dann erst recht da sei.
Soziale Marktwirtschaft habe sie begeistert
Sie spricht in jeder Rede von der sozialen Marktwirtschaft, der Begriff scheint sich vor ihrem inneren Auge ein Feuerwerk zu entfachen. Es zieht sich durch ihr politisches Leben, dass sie dieses Feuerwerk so selten deutlich machen kann.
Die soziale Marktwirtschaft habe sie begeistert, sagt sie auch, als sie ein Mädchen im CDU-Wahlkampfhaus fragt, warum sie nun gerade diese Partei ausgewählt habe.
In zehn, 15 Jahren wird Merkel vermutlich nicht mehr Kanzlerin sein. Ausschlafen, Wandern, in die Rocky Mountains reisen und einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn quer durch Asien – das würde sie dann gerne tun. Für die Tage nach der Wahl hat sie sich etwas Kleineres vorgenommen: Kartoffeln ernten im Garten in der Uckermark. Das muss in jedem Fall sein.