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Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium: Ein Lehrer zwischen Anerkennung und Ablehnung

15.04.2003, 10:08
Rainer Heise, Kunst- und Geschichtslehrer am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt (Foto: dpa)
Rainer Heise, Kunst- und Geschichtslehrer am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt (Foto: dpa) dpa

Erfurt/dpa. - Erst war er der «Held von Erfurt», dann wurde er angefeindet: Lehrer Rainer Heise. Beim Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium begegnete er dem Todesschützen Robert Steinhäuser und schloss ihn ein. In vielen Interviews schilderte der Kunst- und Geschichtslehrer seine Erlebnisse - und wurde über Nacht zum Helden gemacht. Doch das hielt nicht lange an - schon bald wurde Kritik an seiner Art der Darstellung laut, Zweifel kamen auf. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) zog seinen Vorschlag zurück, ihm das Bundesverdienstkreuz zu verleihen.

Noch unter dem Eindruck der Bluttat schildert der Lehrer einen Tag später das Geschehen aus seiner Sicht. Der ehemalige Gutenberg-Schüler Steinhäuser hat innerhalb von gut zehn Minuten bereits 16 Menschen erschossen, als ihm Heise begegnet. Hunderte Schüler sind zu dieser Zeit noch in dem Gebäude und warten auf Rettung, mehrere Leichen liegen in dem Jugendstilbau.

Nach Heises eigener Darstellung lief folgendes ab: «Robert!», sagt er zu Steinhäuser: «Was denkst Du Dir eigentlich dabei? Hast Du geschossen?» Er fordert ihn heraus und sagt: «Drück ab! Wenn Du mich jetzt erschießt, dann guck' mir in die Augen.» Da nimmt Steinhäuser nach Heises Worten die Pistole herunter und sagt: «Für heute reicht es, Herr Heise!» Der Lehrer sperrt Steinhäuser in einen Raum ein, wo dieser sich kurz darauf erschießt.

Die Interviews lösten in seiner Schule Kritik aus: «Manchmal denke ich, er hätte auch ein leiserer Held sein können», befand Schuldirektorin Christiane Alt. «Außer Heise gab es noch viele Lehrer, die verantwortungsvoll gehandelt haben. Das wissen die Kinder.» Erfurts Oberbürgermeister Manfred Ruge (CDU) sagte nur: «Er ist halt so, wie er ist.» Im vergangenen November schließlich zeichnete der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow Heise in Wien als «Mann des Jahres» aus.

«Ich habe mich nie als Held gefühlt. Ich bin ein ganz normaler Lehrer», sagte Heise nach der Verleihung. Die Bluttat verfolgt ihn weiter. «Ich werde die toten Kinder und die getöteten Kollegen nicht los. Ich werde sie in meinem Kopf behalten.» Für Heise wurde der Alltag kurz nach dem Massaker, wie er sagte, zur Hölle: Der Lehrer bekam unfreundliche Briefe und Drohanrufe. «Ich bin auf der Flucht», berichtete er. «Wie ich weiterleben soll, weiß ich nicht.»

Knapp ein Jahr danach unterrichtet Heise weiterhin am Gutenberg- Gymnasium. Gerade erst war er eine Woche unterwegs auf Klassenfahrt. Heise ist geschieden, Vater eines Sohnes und lebt allein in einer Wohnung in Erfurt. Bei vielen Schülern ist er wegen seiner unkonventionellen Art beliebt. Heise wird als spontan, als besonderer Pädagoge beschrieben.

«Er ist ein Lehrer, wie man ihn sich wünschen kann», sagt der Vorsitzende des Gutenberg-Fördervereins, Harald Dörig. «Einer, der sich immer eingesetzt hat.» In der Sonderausgabe der Gutenberg-Schulzeitung zum Jahrestag des Massakers am 26. April soll der «Mensch Heise» vorgestellt werden. Der Held, der keiner sein will, hat sich von der Öffentlichkeit zurückgezogen und will nur eines sein: ein ganz normaler Lehrer.