Alphabetisierung Alphabetisierung: Mehr als vier Millionen Deutsche können nicht lesen

Hamburg/Münster/dpa. - Die Angst, jemand könnte etwasmitbekommen, ist für Betroffene oft der absolute Horror. Formulareausfüllen, Bewerbungen schreiben, Mietvertrag lesen - hohe Hürden imAlltag eines funktionalen Analphabeten, also eines Menschen, dernicht ausreichend lesen und schreiben kann. Rund vier MillionenMenschen jeder Altersgruppe in Deutschland sind nach Angaben desBundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung betroffen - trotzSchulpflicht. Weltweit sind es mehr als 770 Millionen, vorwiegend inEntwicklungsländern.
Was für die meisten eine Selbstverständlichkeit scheint, ist fürden funktionalen Analphabeten oft problematisch. Viele scheiternschon beim Bedienen eines Fahrkartenautomaten. Trotzdem habe einGroßteil für sich Überlebensstrategien entwickelt und kommeerstaunlich gut durch die Welt, sagt Almut Schladebach, pädagogischeMitarbeiterin der Volkshochschule Hamburg. «Viele habenFamilienmitglieder, die ihnen helfen.» Zudem seien funktionaleAnalphabeten oft Gedächtniskünstler. «Sie sehen etwas in der Werbungund kaufen dann nur das, was sie kennen.» Wissenslücken würden nichtselten geschickt verschleiert.
Schladebach gibt seit gut 20 Jahren an der VolkshochschuleDeutschkurse für Deutsche. In kleinen Gruppen von sieben bis neunErwachsenen lehrt sie jedoch nicht nur das ABC. Das Wiederfinden deseigenen Selbstbewusstseins sei ein entscheidender Teil für die nichtminder intelligenten Frauen und Männer, die umringt von Menschenleben, die der Sprache nicht nur in Wort, sondern auch in Schriftmächtig sind. «Die Menschen gelten oft als geistig behindert unddoof», weiß Schladebach. Das nage am Selbstwertgefühl. Ihr Unvermögenwürden Analphabeten dann zumeist «hinter Krakelschrift verstecken,die niemand lesen kann».
Dass in der Bundesrepublik so viele Menschen lese- undschreibunkundig sind, ist für den Geschäftsführer des BundesverbandesAlphabetisierung aus Münster, Peter Hubertus, erschreckend.«Deutschland hat ein Grundbildungsproblem. Das wissen wir seit derPISA-Studie.» Die erfüllte Schulpflicht sage nichts über denLernstand der jungen Menschen aus. Vor allem Kinder, die wenigUnterstützung von ihren Eltern bekommen, würden oftmals die Schulenur absitzen und nach neun Jahren ohne ausreichende Rechen-, Lese-und Schreibkenntnisse entlassen. «Wer als junger Mensch keinenHauptschulabschluss hat, wird keine Chance auf einen dauerhaftenArbeitsplatz haben», mahnt Hubertus.
Europaweit betrachtet ist der Anteil der Analphabeten inDeutschland nicht ungewöhnlich hoch. «Bei den Franzosen ist esähnlich», betont Maren Elfert vom UNESCO-Institut für Pädagogik inHamburg. «Bei den Engländern war es in den vergangenen Jahren sogarganz dramatisch.» Lediglich in den skandinavischen Ländern sehe esbesser aus. «Eine Schule für alle» wie zum Beispiel in Finnland seidas Geheimrezept. In der Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystemssieht Elfert einen Ausweg aus der Misere. Dass der Bund demBundesministerium für Bildung und Forschung zufolge in diesem Jahr1,7 Millionen Euro in Modellprojekte gegen Analphabetismusinvestiert, reicht laut Elfert noch nicht. «Man bräuchte unbedingteine nationale Stelle für Alphabetisierung.»
Hubertus schließt sich der Kritik an. Es sei nicht haltbar, dassBildung und damit auch Alphabetisierung ausschließlich Ländersachesind. «Wir können bei der demographischen Entwicklung in den nächstenJahren auf keinen Menschen verzichten», mahnt er und fordert einebundesweite Alphabetisierungsstruktur. Hubertus will dies am 8.September in Berlin, anlässlich des von der UN ausgerufenen«Weltalphabetisierungstages» bei Bundesbildungsministerin AnnetteSchavan (CDU) nochmals unterstreichen.