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Abtreibung Abtreibung: Unerwünschte Mädchen in Europa

Von Detlef Drewes 03.01.2013, 18:07

Brüssel/MZ. - Die junge Mutter ist verzweifelt. "Nicht noch ein Mädchen", schluchzt sie. Seitdem ihr der Frauenarzt mitgeteilt hat, dass sie eine zweite Tochter erwartet, hat die 28-jährige Rosa völlig die Fassung verloren. "Beim letzten Mal hat mich mein Mann fast umgebracht", erzählt sie weinend. "Er wurde gewalttätig, als er erfuhr, dass ich ihm keinen Sohn geben konnte, ebenso meine Schwiegermutter." Die zweite Schwangerschaft ist für sie zu einem Albtraum geworden. In ihrer albanischen Heimat sind Abtreibungen nach dem dritten Monat zwar verboten. Sie finden trotzdem statt.

112 Männer je 100 Frauen

"Wenn die Eltern erfahren, dass ein Mädchen zur Welt gebracht wird, greifen sie zur künstlichen Schwangerschaftsunterbrechung", stellte vor gut einem Jahr der Europarat in Straßburg in einer Stellungnahme fest. Die Rede ist nicht von China oder Indien, wo das Problem bekannt ist, sondern von Europa. In der Resolution vom November 2011 heißt es, die "pränatale Geschlechtsselektion hat besorgniserregende Ausmaße angenommen". Einige Experten warnten bereits davor, dass die demografischen Strukturen durcheinandergebracht werden könnten. Normalerweise kommen auf 105 Jungen 100 neugeborene Mädchen. In Albanien sind es bereits 112 Jungen. "Nein, die Zahlen sind noch nicht eklatant", heißt es beim Uno-Entwicklungshilfeprogramm (UNDP). Aber sie seien "erschütternd". Und keineswegs ein begrenztes Problem. "Mädchen gelten in vielen Ländern als schwere Last", sagt UNDP-Expertin Aferdita Onuzi. Neben Albanien gibt es Berichte über geschlechtsspezifische Tötungen ungeborener Mädchen auch aus Bosnien, Montenegro und Kroatien. Alles Beitrittskandidaten der EU. Doch auch innerhalb der Union selbst ist die Praxis offenbar weiter verbreitet als bisher angenommen. Unter dem Titel "Igitt, es ist ein Mädchen" berichteten dänische Medien vor Monaten von einem breiten Abtreibungstourismus zum Nachbarn Schweden, wo Schwangerschaftsunterbrechungen bis zur 18. Woche (Dänemark 12. Woche) erlaubt sind. In der Regel wird das Geschlecht während der 14. Woche bestimmt.

Zum Abbruch nach Schweden

Unmittelbar danach seien zahlreiche Däninnen über die Grenze gereist. Sie hatten erfahren, dass sie ein Mädchen bekommen werden.

Christophe Guilmoto vom Institut für Entwicklung an der Universität Paris-Descartes nennt als Ursache eine fast schon "archaische Einstellung", die nicht nur auf dem Balkan verbreitet sei: Jungen tragen den Familiennamen weiter, Mädchen geben ihn bei der Heirat auf. Die männlichen Nachkommen kümmern sich um ihre alten Eltern. In Brüssel gilt das Problem als bekannt, bisher schweigt man jedoch dazu. "Es ist absurd, dass die EU Familienplanung in China kritisieren darf, weil das Reich der Mitte als Entwicklungshilfeland gilt", sagt die Grünen Europa-Abgeordnete Franziska Brandtner. "Bei den EU-Kandidaten auf dem Balkan fällt Abtreibung aber in den Gesundheitsbereich, gehört also nicht zur Menschenrechtspolitik. Deshalb kann Brüssel zwar politischen Druck ausüben, aber rechtlich gibt es keine Handhabe."

Die Geschichte der 28-jährigen Rosa endete übrigens tragisch: Wenige Tage nach einer verunglückten Spätabtreibung nahm sich die verzweifelte Frau das Leben.